Betzingen
Betzingen ist nach Reutlingen-Mitte der einwohnerstärkste Stadtteil von Reutlingen in Baden-Württemberg. Obwohl bereits 1907 von Reutlingen eingemeindet und inzwischen sehr verstädtert und industrialisiert und mit Reutlingen komplett zusammengewachsen, weist der Ort mit rund 11.000 Einwohnern durchaus noch ursprüngliche und ländliche Züge auf.
Betzingen Stadt Reutlingen
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Koordinaten: | 48° 30′ N, 9° 11′ O |
Höhe: | 347 m |
Fläche: | 7,84 km² |
Einwohner: | 11.206 (Mai 2022)[1] |
Bevölkerungsdichte: | 1.429 Einwohner/km² |
Eingemeindung: | 1. April 1907 |
Postleitzahl: | 72770 |
Vorwahl: | 07121 |
Geographie
BearbeitenGeographische Lage
BearbeitenBetzingen liegt im Echaztal zwischen den Städten Reutlingen und Tübingen auf einer Höhe von 360 m ü. NHN. Im Ortskern mündet der, aus nördlicher Richtung kommende, Leyrenbach[2] (im 19. Jahrhundert auch Leirenbach geschrieben[3]) in die Echaz. Weiter flussabwärts, beim Betzinger Friedhof, mündet der Breitenbach von Süden kommend in die Echaz.
Nachbarorte
BearbeitenFolgende Städte und Gemeinden sowie Ortsteile grenzen an Betzingen (im Uhrzeigersinn, beginnend im Norden). Die Gemeinden liegen im Landkreis Reutlingen und Tübingen:
Degerschlacht, Reutlingen, Ohmenhausen, Kusterdingen (Landkreis Tübingen), Jettenburg (Landkreis Tübingen) und Wannweil.
Geschichte
BearbeitenFrühgeschichte und Mittelalter
BearbeitenErste Spuren menschlicher Besiedlung in Betzingen gibt es aus der Hallstattzeit (700–500 v. Chr.) mit mehreren Funden, vor allem Grabhügel. Der Ortsname mit Endung -ingen lässt auf eine Gründung durch die Alamannen im 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr. schließen.[4] Die erste urkundliche Erwähnung von Beczingin datiert auf den 12. März 1258, in der Heinrich Vink und sein Sohn Werner von der Burg Dettingen ihren Besitz an das Klarissenkloster Pfullingen übertragen.[4] 1275 wird die Mauritiuskirche im Zehntregister der Diözese Konstanz erwähnt.[5]
Ab dem 15. Jahrhundert ging Betzinger Grund, durch Verkauf oder Stiftung, in Reutlinger Besitz über, so dass Reutlingen zunehmend Ortsherrschaft erhielt. Die Zugehörigkeit Betzingens zu Reutlingen ist in einer Urkunde von 1480 belegt[4] und wurde später in einer weiteren Urkunde des römisch-deutschen Königs und späteren Kaisers Maximilian I. vom 8. August 1497 bestätigt.
Ab dem 17. Jahrhundert wurde die wirtschaftliche Situation schlechter, teils durch Abgaben der Bauern, teils durch Aufteilung der Höfe durch Erbe und teils durch Kriege wie den Dreißigjährigen Krieg, in dem Betzingen weitgehend zerstört wurde[4] und die Bürger Schutz im befestigten Reutlingen suchten.[5] Einige Kleinbauern begannen ein Handwerk, vor allem die Weberei, auszuüben.[4]
Ende des Heiligen Römischen Reichs und Industrielle Revolution
BearbeitenNach dem Ende der reichsstädtischen Zeit Reutlingens wurde Betzingen, das damals ca. 1000 Einwohner hatte, 1803 selbstständige Gemeinde des Oberamts Reutlingen.[4]
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Betzingen mehrere (Textil-)Fabriken gegründet: 1846 die Spinnerei und Zwirnerei Schickhardt, 1847 die Baumwollweberei August Knapp, später die Zwinnerei Wilhelm Marggraff, der Textilfabrik-Zulieferer C.C. Egelhaaf, die Cordweberei Hermann Schmidt und 1869 die Textilfabrik Ulrich Gminder (zwischen Betzingen und Reutlingen).[5] Mit Errichtung dieser Fabriken und dem Anschluss an die Eisenbahn 1861 wurde die wirtschaftliche Situation wieder besser.[4] Betzingen wandelte sich so von einem „Bauern- und Weberdorf zu einer Arbeiterwohngemeinde.“[4] Um 1900 gab es ca. 400 Arbeitsplätze in den Fabriken, Landwirtschaft und selbstständige Tätigkeit nahmen ab; ungefähr ein Viertel der Einwohner war zugezogen.[5] Die wirtschaftliche Verflechtung und räumliche Nähe zu Reutlingen, sowie große öffentliche Aufgaben (Straßenbau, Kanalisation, Wasserversorgung) waren Gründe für die Eingemeindung Betzingens nach Reutlingen am 1. April 1907.[4]
Nach der Eingemeindung 1907 und Drittes Reich
BearbeitenVon 1912 bis 1967 war der Stadtteil ferner durch die Straßenbahn Reutlingen mit der Kernstadt verbunden. Die Esslinger Holz- und Eisenwarenfabrik Wilhelm Heim pachtete ab 1936 das Gelände der Zwinnerei Schickhardt (heute Wannweiler Straße 11).[6] Zunächst wurden dort Spinde für die Wehrmacht hergestellt und ab 1943 Flügel für die V1 – unter Ausnutzung von mindestens 450 Zwangsarbeitern.[6] Die (Textil-)Fabriken waren Ziele der Luftangriffen der Alliierten auf das Deutsche Reich. Der erste Angriff auf Betzingen erfolgte am 16. März 1944.[7] Am 20. April 1945 ging Oskar Kalbfell in Betzingen den aus Tübingen anrückenden französischen Truppen (1. Armee) mit weißer Flagge entgegen und konnte so weiteren Schaden von Reutlingen abwenden.
Einwohnerentwicklung
BearbeitenJahr | Einwohner[5] |
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~1800 | 1.000 |
~1860 | 1.500 |
~1885 | 2.000 |
~1900 | 3.000 |
1946 | 4.800 |
2015 | 11.471 |
Politik
Bearbeiten- 1905 wurde der auf Lebenszeit eingesetzte Schultheiß, Martin Leibßle, gedrängt in den Ruhestand zu treten.[5]
- In der Zeit des Dritten Reiches wurden die Betzinger Vereine gleichgeschaltet. Lieder-, Trachten- und Tanzgruppe wurden von den Nationalsozialisten vereinnahmt.[5]
- Von 2004 bis 2019 war Thomas Keck (SPD) Bezirksbürgermeister von Betzingen
- 2019 wurde Friedemann Rupp (Grüne)[8] zum Bezirksbürgermeister gewählt.[9]
Wappen
BearbeitenDas Wappen zeigt zwei nebeneinander stehende Bäume, die in der Heraldik als Tannen angesehen werden.[4][10][11] Das Siegel von Eberhard von Betzingen an einer Urkunde aus dem Jahr 1341 und Zeichnung im Württembergischen Adels- und Wappenbuch wurde in den 1960er Jahren als Betzinger Wappen aufgegriffen. Da Betzingen bereits 1907 nach Reutlingen eingemeindet worden war, besaß es nie Rechtsgültigkeit. 1994 wurde das erste Mal eine Fahne mit dem Wappen vor dem Betzinger Rathaus gehisst.[4]
Tracht
BearbeitenSeit dem 19. Jahrhundert ist die Betzinger Tracht über den Ort hinaus bekannt. Sie war bei Malern, Fotografen, auf Trachtenumzügen und am Württemberger Hofe durch Wilhelm II. (Württemberg) beliebt. Die Betzinger konnten durch das Präsentieren der Tracht Geld verdienen. Im 20. Jahrhundert wurde sie noch auf Hochzeiten getragen, im 21. Jahrhundert auf Volksfesten.
Sehenswürdigkeiten
Bearbeiten- Umweltbildungszentrum Listhof
- Heimatmuseum „Im Dorf“
Bauwerke
Bearbeiten- Evangelische Mauritiuskirche
- Bürgermeisterhaus
- Wernersche Mühle
- Betzinger Zehntscheuer
- Kirche Hl. Kreuz der Priesterbruderschaft St. Pius X.
Trippel
Bearbeiten-
Haus mit Doppeltrippel
-
Bürgermeisterhaus mit Doppeltrippel
-
Haus mit Trippel
-
Trippel am Museum Im Dorf
Typisch für Betzinger Bauernhäuser war der Trippel, eine "[...] steile Freitreppe [...]. Vermutlich um Raum zu sparen wurde der Aufgang zur Wohnung im ersten Obergeschoss ins Freie verlegt."[12]
Organisationen
Bearbeiten- In der Hoffmannschule (Grund- und Hauptschule) werden rund 560 Schüler unterrichtet.
- Der TSV Betzingen ist der größte Sportverein in Betzingen, er ist in 14 Sparten aufgeteilt. Darunter auch eine BMX Bundesligamannschaft sowie mehrere Fußballmannschaften in verschiedenen Klassen. Die Handballmannschaften sind bis zur Oberliga Württemberg vertreten.
- Betzinger Sängerschaft, 1837 als Gesangsverein für Betzinger Männer. 1909 um einen Frauen- und gemischten Chor erweitert.[5]
- Musikverein Betzingen, gegründet 1903.[5]
Söhne und Töchter
Bearbeiten- Ernst Boepple (1887–1950), Verleger in München und während des Zweiten Weltkrieges Staatssekretär im Generalgouvernement.
- Oskar Kalbfell (1897–1979), Politiker der SPD und Oberbürgermeister von Reutlingen
- Hans Baltisberger (1922–1956), Motorradrennfahrer
- Karl Kußmaul (1930–2022), deutscher Werkstofftechniker und Materialprüfer, emeritierter Professor und ehemaliger Direktor der Staatlichen Materialprüfanstalt Stuttgart (MPA)
- Klaus Engler (1934–2006), Musikwissenschaftler, Bibliothekar und Hochschullehrer
- Daddes Gaiser (1956–2004), Sänger der Gruppe Kiz
- Hubert Kah (* 1961), deutscher Musiker, Komponist, Liedtexter und Produzent
Literatur
Bearbeiten- Betzingen. In: Johann Daniel Georg von Memminger (Hrsg.): Beschreibung des Oberamts Reutlingen (= Die Württembergischen Oberamtsbeschreibungen 1824–1886. Band 1). Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, 1824, S. 105–107 (Volltext [Wikisource]).
- Sonntagmorgen in Betzingen. In: Die Gartenlaube. Heft 28, 1864, S. 437–441 (Volltext [Wikisource]).
Weblinks
Bearbeiten- Offizielle Internetpräsenz des Stadtteils
- www.betzingen.info – Bilder aus Betzingen und Links zu weiterführenden Informationen
- Betzingen bei leo-bw, dem landeskundlichen Informationssystem für Baden-Württemberg
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Einwohnerzahl | Stadt Reutlingen. Abgerufen am 25. September 2022.
- ↑ Fiat stürzt in den Betzinger Leyrenbach. Reutlinger Generalanzeiger, 12. Oktober 2017, abgerufen am 10. April 2022.
- ↑ vlg. Johann Daniel Georg von Memminger: Beschreibung des Oberamts Reutlingen (1824) bei Google Books oder Wikisource
- ↑ a b c d e f g h i j k Geschichte Betzingens. Stadt Reutlingen, abgerufen am 14. April 2022.
- ↑ a b c d e f g h i Ingrid Helber: Die Betzinger Tracht. Anmut, Stolz und Selbstbewusstsein. Schwäbischer Albverein Ortsgruppe Betzingen, Betzingen 2015, ISBN 978-3-939775-53-9.
- ↑ a b Holger Lange: Bomben auf Betzingen. Reutlinger Nachrichten via PressReader, 9. März 2019, abgerufen am 10. April 2022.
- ↑ Kriegsende! Kriegsende? Reutlingen nach 1945. museum-digital, abgerufen am 10. April 2022.
- ↑ Norbert Leister: Viel Applaus für Bezirksürgermeister Rupp. Reutlinger Nachrichten via PressReader, 13. Juli 2019, abgerufen am 10. April 2022.
- ↑ Norbert Leister: Beifall in Betzingen für Schultes Friedemann Rupp - Reutlingen - Reutlinger General-Anzeiger. Abgerufen am 12. August 2019.
- ↑ Otto von Alberti: Württembergisches Adels- und Wappenbuch. Heft 16: Figurenregister von Albert Freiherrn v. Botzheim. Internet Archive, 1889, S. 112, abgerufen am 14. April 2022.
- ↑ Helmut Schepper: Wappenbuch Landkreis Reutlingen – Die Städte- und Gemeindewappen. Münsingen 2001, ISBN 3-9805531-4-0.
- ↑ Museum 'Im Dorf' Betzingen -> Rundgang. Website der Stadt Reutlingen, abgerufen am 11. Juli 2022.