Schulbuchforschung (bzw. heute oft weiter gefasst Bildungsmedienforschung) ist ein transdisziplinärer Forschungsbereich. Der hauptsächliche Untersuchungsgegenstand ist das Schulbuch (allgemeiner: Unterrichts-/Bildungsmedien). Wissenschaftliche Vergleiche und historische Analysen von Bildungsmedien lassen z. B. Rückschlüsse auf Weltsicht, Wissensstand und Werte in ihrem Entstehungs- und Nutzungskontext zu.

Geschichte der Schulbuchforschung

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Außer in mündlicher Überlieferung werden in Schriftkulturen auch Texte in erzieherischer und unterrichtender Absicht schriftlich verfasst[1], um Fachwissen und Kompetenzen zu vermitteln, die Gesellschaften jeweils als wahr und wichtig erachten. Die Wurzeln der neuzeitlichen europäischen Bildungsgeschichte liegen neben den Klosterschulen vor allem im humanistischen Italien des 15. Jahrhunderts, wo neben Lateinschulen auch Gymnasien und Akademien entstanden.[2]

Die Erfindung des Buchdrucks machte hohe Auflagen für Unterrichtsmaterialien möglich und langfristig auch erschwinglich. Erste Initiativen zur Schulpflicht gab es in deutschsprachigen Territorien seit Ende des 16. Jahrhunderts. Ein relativ flächendeckendes Netz an Grund- bzw. Elementarschulen gab es etwa seit Ende des 18. Jh., wobei der Alphabetisierungsgrad noch gering war.[3] Schulbücher wurden seitdem zu Massenmedien, die eine große Zahl Kinder und Jugendlicher erreichen und deren Produktion und Verbreitung häufig von Obrigkeiten reguliert wird. So stritten kirchliche und weltliche Gelehrte und Hoheiten immer auch über Schulordnungen und Lehrpläne, Lehrbuchinhalte und pädagogische Methoden.[4]

Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte der Völkerbund Interesse an der Schulbuchrevision vor allem im Geschichtsunterricht und verabschiedete 1926 dazu die Casares-Resolution. 1937 kam noch eine zwischenstaatliche Vereinbarung unter 26 Staaten zum Geschichtsbuch zustande, die politisch wirkungslos blieb.

In Deutschland standen nach 1945 erstmals die Schulbücher im Zentrum einer Reflexion, die der Geschichtsdidaktiker Georg Eckert in Braunschweig anschob. Mit Unterstützung der UNESCO und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lehrerverbände gründete er 1951 das Internationale Institut für Schulbuchverbesserung. 1953 wurde es als Internationales Schulbuchinstitut an der Pädagogischen Hochschule Braunschweig als Forschungsinstitut eingerichtet, das sich zunächst auf das Fach Geschichte konzentrierte. 1965 wurde der Auftrag durch den Europarat auf Geographie erweitert. Begünstigt durch Bildungsreformprozesse und zunehmendes Interesse des Bundesaußenministeriums an der Kulturpolitik, wurde 1975 unabhängig von der PH in Braunschweig das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung gegründet.[5] Hier fanden zunächst, wie von der UNESCO gefordert, bilaterale Gespräche zur Schulbuchrevision mittels Schulbuchkommissionen statt.[6] 1977 schlossen sich unter Leitung des Politikwissenschaftlers Horst E. Schallenberger eine Reihe von Wissenschaftlern verschiedener Fachdisziplinen an der Universität-Gesamthochschule Duisburg zum Institut für Schulbuchforschung (IfS) zusammen.[7] Im Gegensatz zum Georg-Eckert-Institut ging das Duisburger IfS auf "gegenwartsbezogene Probleme" und die "politische Bedeutung" des Schulbuchs ein. Gemeinsam mit Gerd Stein konzentrierte sich Schallenberger auf die Schulbuchkritik, woraus "praktikable Hinweise zur Gestaltung neuer und besserer Schulbücher entstanden".[8] Das Institut wurde 1991 aufgelöst. Die Spezialsammlung an Schulbüchern ging in die Schulbuchsammlung der Universitätsbibliothek der Universität Duisburg-Essen ein, sie umfasst ca. 7500 Bände, die zwischen 1879 und 2008 erschienen sind. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum 1960 bis 1970.[9]

Ab Mitte der 1980er Jahre wurden vermehrt sozialwissenschaftliche Fragen gestellt, z. B. nach Produktion(sbedingungen) von Schulbüchern, ihrer Verwendung im Unterricht, visueller Kommunikation, und Schulbüchern als Mittel der Sozialisation.[10] Neue Forschungsansätze und Forschungsinfrastrukturen entwickelten sich parallel zur Retrodigitalisierung historischer Schulbücher und der vermehrten Entstehung und Nutzung von genuin digitalen, oftmals multimedialen Angeboten wie digitale Schulbücher und Open Educational Resources.

Bildungsmedienforschung ist in Deutschland nicht universitär durch entsprechende Lehrstühle verankert, sondern wird vornehmlich als Teilbereich etwa von erziehungswissenschaftlichen oder historischen Seminaren, aber auch durch das Georg-Eckert-Institut, das inzwischen der Leibniz-Gemeinschaft angehört, betrieben.

Methoden

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Nachdem zunächst Inhaltsanalysen und Vergleiche im Zentrum der Forschung standen, wurden später auch empirische Studien etwa zur Rezeption und Wirkung durchgeführt. Jüngst bemüht sich vor allem die geschichtsdidaktische Schulbuchforschung auch darum, die Entstehungsgeschichte und den Gestaltungsprozess von Schulgeschichtsbüchern empirisch (quellengestütuzt) herauszuarbeiten.[11][12] Heute nutzt die Forschung auch Methoden der Digital Humanities etwa zur Analyse von Diskursen, Sprachwandel usw.[13]

Qualitative Methoden umfassen Anleihen aus der Erzähltheorie, Diskursanalyse und Dispositivanalyse.[14]

Forschungsbereiche

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Aktuelle Forschungsbereiche umfassen z. B.[15]:

  • Historische Bildungs(medien)forschung, z. B. Ausdifferenzierung von Schultypen, Entwicklung von Curricula, Säkularisierung des Bildungswesens etc.
  • Fachdidaktische Forschungen / Empfehlungen für Schulbuchherstellung und -revision[16]
  • Vergleichende Bildungsmedienforschung, z. B. Darstellung von Konflikten, Religionen, Gender, Migration in Schulbüchern
  • Schulbuchproduktion / Gestaltung / Medien, z. B. auch E-Schulbücher und Open Educational Resources
  • Nutzung und Aneignung durch Lehrende und Lernende

Forschungseinrichtungen, Fachportale, Vereine

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Wichtigster internationaler Verband ist die Internationale Gesellschaft für Forschung zu Schulbüchern und Bildungsmedien (International Association for Research on Textbooks and Educational Media, IARTEM).

Im deutschsprachigen Raum wird die (internationale) Bildungsmedienforschung durch verschiedene Institutionen und Fachvereinigungen betrieben oder unterstützt, darunter:

Literatur

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  • Christa Berg, Karl-Ernst Jeismann (u. a.) (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bände. Beck, München 1987–2005, ISBN 3-406-32468-1.
  • Wolfgang Jacobmeyer: Das deutsche Schulgeschichtsbuch 1700–1945. 3 Bände. LIT, Berlin 2011, ISBN 978-3-643-11418-1.
  • Eckhardt Fuchs, Inga Niehaus, Almut Stoletzki (Hrsg.): Das Schulbuch in der Forschung. Analysen und Empfehlungen für die Bildungspraxis (= Eckert. Expertise 4). V&R unipress, Göttingen 2014.[5]
  • Petr Knecht, Eva Matthes, Sylvia Schütze, Bente Aamotsbakken (Hrsg.): Methodologie und Methoden der Schulbuch- und Lehrmittelforschung/Methodology and Methods of Research on Textbooks and Educational Media (= Klinkhardt Forschung. Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung). Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2014.
  • Imke Rath (Hrsg.): Methoden und Theorien der Bildungsmedien‐ und Bildungsforschung – Ein Werkstattbericht von Nachwuchswissenschaftlerinnen und ‐wissenschaftlern des Georg‐Eckert‐Instituts. (= Eckert. Dossiers 14). 2017, ISSN 2191-0790.
  • Eckhardt Fuchs/ Kathrin Henne/ Steffen Sammler: Schulbuch als Mission. Die Geschichte des Georg-Eckert-Institutes, Böhlau, Köln 2018, ISBN 978-3-412-507374

Einzelnachweise

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  1. Vgl. z. B. die Beiträge in Aleida und Jan Assmann (Hgg): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation, München: Fink 1983, ISBN 3-7705-2132-3.
  2. August Buck, Der italienische Humanismus, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte I: 15.-17. Jahrhundert, München 1996, S. 1, 19.
  3. Reinhard Wittmann: Geschichte des Deutschen Buchhandels, 1999, ISBN 3-406-42104-0, S. 190–197.
  4. Vgl. August Buck, Der italienische Humanismus, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte I, S. 11; Wilhelm Kühlmann, Pädagogosche Konzeptionen, ebd. S. 156–159, Arno Seifert, Das höhere Schulwesen, ebd. S. 224.
  5. Vgl. Eckhardt Fuchs, Steffen Sammler, Schulbücher zwischen Tradition und Innovation. Ein Streifzug durch die Geschichte des Georg-Eckert-Instituts, S. 2 urn:nbn:de:0220-2015-00074
  6. Simone Lässig: Geschichte von Lehrmitteln. Das Schulbuch als Politikum, in: Tagesspiegel.de vom 14. August 2014, 11:43 Uhr [1]
  7. Gerd Stein: Institut für Schulbuchforschung e. V. an der Universität/Gesamthochschule Duisburg, in: Internationale Schulbuchforschung Vol. 3, No. 1 (1981), pp. 65–67 [2]
  8. Werner Wiater: Das Schulbuch als Gegenstand pädagogischer Forschung, in: Historische Schulbücher der Sondersammlung Cassianeum der Universitätsbibliothek Augsburg: Begleitheft zur CD-ROM-Ausgabe des Katalogs, Verlag: Universität Augsburg [3]
  9. Die Schulbuchsammlung der UB Duisburg-Essen [4]
  10. Eckhardt Fuchs, Das Schulbuch in der Forschung, S. 21f.
  11. Benjamin Bauer: »Die Entscheidung für ein Geschichtsbuch ist auch ein politischer Akt« – Geschichtskulturelle Hegemonie und Schulgeschichtsbücher im Zulassungsverfahren, in: Christine Pflüger (Hg.): 2019 Die Komplexität des kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts, S. 131–150.
  12. Sabrina Schmitz-Zerres: Inhalte und Entstehungsprozesse von Zukunftsnarrationen in Geschichtsbüchern von 1950 bis 1995. (= Beihefte zur Zeitschrift der Geschichtsdidaktik 18), V&R unipress, Göttingen 2018.
  13. Eckhardt Fuchs, Das Schulbuch in der Forschung, S. 22, 24–29.
  14. Imke Rath, Schulbuchforschung als Herausforderung für Qualitative Methoden, in: Imke Rath (Hg.): (2017) Methoden und Theorien der Bildungsmedien‐ und Bildungsforschung, S. 4–16. urn:nbn:de:0220‐2017‐0193.
  15. Bibliothek des Georg-Eckert-Instituts: Thematische Literaturliste: Wissenschaftliche Literatur zur Methodik der Schulbuchforschung, 2. Aufl. Stand: August 2016 PDF
  16. Vgl. Falk Pingel: UNESCO Guidebook on Textbook Research and Textbook Revision (2.durchges. und erweiterte Auflage) Paris/Braunschweig 2010 PDF
  17. http://www.historische-bildungsforschung-online.de/ Link zum Portal Historische Bildungsforschung Online