Ausführliche Erläuterungen zur Stellung des Begriffs "Erfindung" innerhalb der rhetorischen Terminologie und zur Personengeschichte/Sozialgenealogie durch Reinhard Breymayer im Blick auf die Möglichkeit, dass eine oder mehrere Patientinnen Dr. Eberhard Gmelins eine Anregung zu Kleists Ritterschauspiel "Das Käthchen von Heilbronn" gegeben haben können

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In der offenen Diskussion darüber, inwieweit der Dichter Heinrich von Kleist in seinem Ritterschauspiel Das Käthchen von Heilbronn an historische Realität anknüpft, insbesondere ob zu seiner Charakterisierung der literarischen Figur des Käthchens real existierende Persönlichkeiten, etwa Patientinnen des Heilbronner Arztes Dr. Eberhard Gmelin, beigetragen haben können, ist folgendes zu beachten:

1) Kleist hat im Sommer 1811 in einem Brief an Marie von Kleist über sein Ritterschauspiel Das Käthchen von Heilbronn festgestellt: „ [...] es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung.“

Daß der altsprachlich gebildete Dichter hier "Erfindung" im Sinne der rhetorischen Termini "Heúresis" oder "inventio" versteht, liegt für klassisch-philologisch gebildete Experten nahe, die etwa an Ciceros Abhandlung "De inventione" erinnern. Dennoch wurde erst am 2. August 2013 in der Diskussion zum Wikipedia-Artikel "Das Käthchen von Heilbronn" darauf hingewiesen, und zwar in gründlicher wissenschaftlicher Weise durch einen klassisch-philologisch gebildeten Rhetorikexperten (Schüler von Walter Jens).

Außerdem konnte in der früheren Fassung des Artikels Charlotte Elisabethe Zobel Kleists Bezugnahme auf Heilbronn - eine durchaus real existierende Stadt - und das gerade in der Region Heilbronn bis 1806 nachwirkende Ritterwesen noch deutlicher erklärt werden:

2) durch den Hinweis auf eine vordem nicht beachtete familiäre Beziehung von Kleists Freund Ferdinand Hartmann zu Heilbronn durch seine Heilbronner Schwester Henriette Mayer, geb. Hartmann, die Ehefrau des ritterschaftlichen Juristen Friedrich Christoph Mayer und nachmalige Schwiegermutter des Heilbronner Stadtoberhaupts Johann Klemens Bruckmann. Kleists Malerfreund Ferdinand Hartmann hat sich wohl auch deswegen für Heilbronn interessiert, weil dort ein Sohn seiner Schwester, Ludwig ("Louis") Hartmann Mayer (1791–1843), als dichtender und philosophischer Maler, der sich durch reizvolle Landschaftsgemälde auszeichnete, mit seinem im Dresdner Umkreis Kleists weilenden Onkel Ferdinand Hartmann malerisches Talent gemeinsam hatte.

3) durch den Hinweis auf die Bedeutung der mit der Heilbronner Familie Zobel verschwägerten Familien Oetinger, Dertinger und Reuß für die heilmagnetische Behandlung der Charlotte Elisabethe Zobel, für ihren Arzt, Eberhard Gmelin (als Schüler Ferdinand Christoph Oetingers, eines Bruders des pietistischen Prälaten und Theosophen Friedrich Christoph Oetinger), für den Schelling-Schüler, Friedrich-Christoph-Oetinger- und Eberhard-Gmelin-Kenner im Dresdner Umkreis Kleists Gotthilf Heinrich Schubert, auf dessen Dresdner Vorlesung Kleists Freund Ferdinand Hartmann den Dramatiker aufmerksma gemacht hat.

Es spricht nichts dagegen, daß die grundlegenden Hinweise früherer Kleist-Forscher auf die heilmagnetischen Behandlungen des Heilbronner Arztes Eberhard Gmelin durch weitere sprachhistorische, personengeschichtliche, insbesonders sozialgenealogische, und landeskundliche Ergebnisse ergänzt werden. Diese neuen Ergebnisse sollten aber der Forschung weiterhin zur Verfügung stehen und nicht einfach gelöscht werden.

Weitere Erläuterungen zum rhetorischen Terminus "Erfindung"

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Angenommen, der Begriff "Erfindung" sei im heute üblichen Sinn als "Fiktion" zu verstehen, ist dazu zu sagen: Auch die Erfindung einer literarischen Figur kann nicht aus dem Nichts hervorgehen, und die Frage, welche Anregungen und Einflüsse Kleist erfahren hat, als er das Drama konzipierte, ist legitim. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß "Erfindung" als Entsprechung für den lateinischen Begriff "inventio" auftreten kann, der in der Theorie der Rhetorik eine wichtige Rolle spielt, vor allem bei der Findung des Stoffes und der Argumentation:

"inventio: erstes Produktionsstadium der Rhetorik: Finden der Gedanken und Möglichkeiten, die sich aus einem Thema bzw. aus einer Fragestellung entwickeln lassen. In dieser ersten Phase der Rede- oder Textproduktion gilt es, zu einem vorgegebenen oder vorgenommenen Thema möglichst viele inhaltliche oder gedankliche Aspekte zu entwickeln, die bei der Darstellung des Themas (innerhalb eines bestimmten Zweckzusammenhangs) zum Einsatz kommen können oder sollen. Es gilt also Stoff und Material zu ‚sammeln’, um das Thema angemessen – und das kann durchaus schon eine bestimmte Perspektive oder gar Parteinahme umfassen – behandeln zu können."[1]

Kleist war, besonders durch den Prediger, Katecheten und Gräzisten Samuel Heinrich Catel (1758 – 1838) rhetorisch geschult und befasste sich selbst mit der Theorie der Rede. Dass er von "Erfindung" spricht, schließt also nicht zwingend Anknüpfung an historische Realität aus. Dies scheint in der Forschungsdiskussion bisher zu wenig beachtet worden zu sein.

  1. http://www.li-go.de/prosa/rhetorik/inventiomittopik.html/ (Abruf am 02.08.2013, 11:08 Uhr.)
    • Speziell auf den Bezug von Kleists Formulierung "treffliche Erfindung" zum rhetorischen Begriff "inventio" hat erst im Kleistjahr 2013 der Rhetorikexperte Reinhard Breymayer innerhalb der Diskussion zum Wikipedia-Artikel Das Käthchen von Heilbronn hingewiesen.
    Vgl. dazu https://de.wiki.x.io/wiki/Diskussion:Das_Käthchen_von_Heilbronn, Abschnitt 6: "Erfindung" ist nicht notwendig gleichbedeutend mit "Fiktion". (Eintrag vom 2. August 2013; Abruf 28. Januar 2015).
    • Speziell zu Kleists Abhandlung "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" vgl. Joachim Knape: Kreativität der spontanen Findung. Inventivik im rhetorischen Stegreif heute, bei Alkidamas und Heinrich von Kleist. In: Joachim Knape, Achim Litschko (Hrsg.): Kreativität. Kommunikation – Wissenschaft – Künste, Weidler Buchverlag, Berlin 2013 (neue rhetorik. Hrsg. von Joachim Knape, 6), S. 183 – 220.
    • Allgemein zum Begriff "Erfindung" in der Rhetorik vgl. Tobias Schmohl: Kreativität im Fokus der Rhetorik, ebd., S. 83 – 106, hier S. 90: "Obwohl in der Tradition immer wieder die Bedeutung der Phantasie, des Vorstellungsvermögens oder des kreativen ingenium des Orators während dieses Arbeitsschrittes betont wurde, geht es strukturell doch eher um ein 'Auffinden' als um einen kreativen Akt des Neuerfindens. Der griechische Begriff heúresis ist hier noch präziser als seine lateinische Übersetzung mit dem Konzept der inventio, das lexikalisch ambig ist, insofern es wowohl die Auf- als auch die Erfindung gedanklicher Inhaltskomponenten bezeichnen kann."
    • Ergänzend wäre auf den Artikel "Erfindung" in wortgeschichtlichen Nachschlagewerken hinzuweisen, aus denen hervorgeht, dass die Bedeutung "Fiktion" für das Wort "Erfindung" nur eine von mehreren Bedeutungsvarianten ist. – Kleist hätte seinerzeit im Aufblick zu einer über ihm schwebenden Montgolfière sagen können: "Das ist eine treffliche Erfindung" – damit hätte er doch ein reales, trefflich konstruiertes, kein fiktives, Luftfahrzeug bezeichnet.
    • Vgl. die einschlägigen Artikel von E(lke) U(mbach) in: Goethe Wörterbuch. Hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 3, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, besonders Sp. 279: "Erfindung": [...] 2 im ästhet[ischen]. Bereich, häufig als term[inus] tech[nicus] a m[it] Bez[ug] auf literarische, meist poet[ische]. Texte; überwiegend als nomen acti für die Idee eines Werks od[er] inhaltl[icher] Details, für das Handlungsgerüst, für die Konzeption einer neuen Gattungsform od[er] eines neuen Darstellungselements; als nomen actionis für die schöpferische Leistung der Einbildungskraft, vereinzelt iron[isch] als ein jugendl[ich] phantast[isches] um die Realisierbarkeit unbekümmertes Tun; seit den 90er Jahren öfter i[m] S[inne] der traditionellen rhetor[ischen]. Kategorie der 'inventio', meist i[m] U[nterschied] z[ur] Ausführung".
    • Vgl. zu Goethes entsprechendem Sprachgebrauch ebd., Sp. 280, über die Gattung des Briefromans: "der Roman in Briefen war eine glückliche E[rfindung]." 29.231.9 DuW [Dichtung und Wahrheit]; einmal in der ästhet[ischer] Beurteilung einer relig[iösen] Figur Was die Mutter Gottes für eine schöne E[rfindung] ist, fühlt man nicht eher als mitten im Catholicismus..Es ist ein Gegenstand," [...] "der eine gewisse innerliche Grazie der Dichtung hat. T1.282.18. [Tagebuch der Italienischen Reise, Eintrag] v.8.10.[17]86".
    • Der Literaturkritiker Alfred Polgar, der durch seine zusammen mit Egon Friedell verfaßte Parodie Goethe. Eine Szene (1908) (apäter auch Goethe im Examen genannt) bekannt geworden ist und Kleists Frauenfigur Penthesilea geschätzt hat, knüpft in einem Brief an Maria Magdalene Sieber, geb. Dietrich (Marlene Dietrich), möglicherweise bewußt an solchen Sprachgebrauch Goethes an. Polgar schmeichelt 1936 der Filmschauspielerin, die als real existierende Darstellerin der fiktiven „Femme fataleLola Lola im Spielfilm Der Blaue Engel weltberühmt geworden ist: „Traurig, daß Sie fort sind! Es war gut, sie alle Tage leibhaftig zu sehen und feststellen zu können, was für ein ebenso feiner wie glänzend-aparter Einfall der Schöpfung es war, Sie zu erfinden.“ Zitiert nach dem Faksimile des Briefes von Alfred Polgar an „M. D.“, aus dem „Haus D[r. iur. Siegfried] Gmelin Aigen b[ei]. Salzb[ur]g 19.8.36“ bei Ulrich Weinzierl: Aber verliebt in sie war ich schon … Alfred Polgar und Marlene Dietrich. In: Alfred Polgar: Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin. Hrsg. und mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl, Paul Zsolnay Verlag, (Wien 2015). – ISBN 978-3-552-05721-0, S. 75–119, hier S. 92. Polgar, der „die Gunst mehrfacher Realpräsenz“ (Weinzierl, ebd., S. 90) der Schauspielerin erfahren hat, hat meisterhaft das Wechselspiel zwischen realer, leibhaftiger Frau und deren Rolle als erfundener Verkörperung (persona/phersu im archaischen Wortsinn) einer fiktiven Frauengestalt erfasst.
    • Auch bei Goethe ist der Begriff "Erfindung" mehrdeutig; vgl. E(lke) U(mbach) in: Goethe Wörterbuch, Bd. 3 (1998), Sp. 280: "3 lügenhafte Täuschung, leere Einbildung, Fiktion". Wichtig ist es eben, bei der Diskussion mögliche Bedeutungen nicht von vornherein auszublenden.