Surselvische Sprache

bündnerromanisches Idiom
(Weitergeleitet von Sursilvan)

Surselvisch (auch Oberländisch, Oberwaldisch, rätoromanisch Sursilvan) ist ein bündnerromanisches Idiom und wird in der Region Surselva im Kanton Graubünden gesprochen, also im Vorderrheintal ab Flims/Flem talaufwärts. Das nächstverwandte Idiom ist das sich östlich anschliessende Sutsilvan.

Ehemaliges Verbreitungsgebiet der einzelnen bündnerromanischen Idiome im Kanton Graubünden

Ein Subdialekt des Sursilvan mit einigen Eigentümlichkeiten ist das Tuatschin.

Verbreitung der Sprache

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Nach der Volkszählung im Jahre 2000 gaben von den Einwohnern im damaligen Bezirk Surselva 13 879 Personen Sursilvan als Muttersprache an und zugleich als diejenige Sprache, die sie am besten beherrschten. Dies entspricht einem Anteil von 42,5 % der Gesamtbevölkerung. 17 897 Personen gaben an, die Sprache im Alltag, in der Familie und im Beruf zu verwenden, was 54,8 % der Gesamtbevölkerung entspricht. Im Val Lumnezia bezeichneten 82 % der Bevölkerung Sursilvan als die von ihnen am besten beherrschte Sprache; in der Cadi waren dies 78,1 %, in der Gruob 48 %, in der Stadt Ilanz dagegen nur 29,9 %.[1]

Erste Drucke

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Ilg vêr sulaz da pievel giuvan

Nach der Reformation wuchs das Bedürfnis nach einer bündnerromanischen Schriftsprache; die romanischen Reformatoren wollten die Bibel und andere theologische Schriften in die Sprache des Volkes übersetzen. Nachdem Durich Campell 1562 die Psalmenübersetzungen Ün Cudesch da Psalms in Engadinerromanisch verfasst hatte, erschien 1611 das erste surselvische Buch des Ilanzer Pfarrers Stefan Gabriel in Basel: Ilg vêr sulaz da pievel giuvan («Die wahre Freude des jungen Volkes»).

Sprachliche Merkmale im Überblick

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Votivbild mit Text von 1809 aus dem Kloster Disentis

Phonologie

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Im Gegensatz zu den Idiomen im Engadin, die noch die gerundeten Vorderzungenvokale /ü/ und /ö/ kennen, hat im Surselvischen Entrundung zu /i/ und /e/ stattgefunden, vergleiche surselvisch mir «Mauer», egl «Auge» mit engadinisch mür, ögl. Surselvisch (mit der Ausnahme der Mundart des Tujetsch) kennt sodann keine Palatalisierung von anlautendem /k/ zu /tsch/ vor /a/, vergleiche surselvisch casa «Haus» mit /k/ gegenüber sutselvisch tgea, Vallader (Unterengadinisch) chasa und Putèr (Oberengadinisch) chesa, die alle mit anlautendem /tsch/ gesprochen werden.[2]

Morphologie

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Ein Alleinstellungsmerkmal des Surselvischen gegenüber den anderen bündnerromanischen Idiomen im Bereich der Flexionsformen ist, dass ein prädikatives, also nachgestelltes Adjektiv eine besondere maskuline Endung auf -s erhält: il Pieder Fluretg, maghers e secs «Pieder Fluretg, mager und dürr». Ein weiteres morphologisches Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Bündner Romania ist, dass das Vorkommen klitischer Subjektspronomen im Surselvischen auf wenige Fälle beschränkt ist; mit anderen Worten wird das dem Verb nachgestellte Pronomen im Engadinischen und Mittelbündnerischen häufig verkürzt, im Surselvischen viel seltener.[2]

Eine Differenzierung im Satzbau liegt darin vor, dass im Engadinischen ein direktes Objekt mit der Präposition a eingeleitet wird, im Surselvischen hingegen nicht, man vergleiche surselvisch has viu Peider? «hast du Peter gesehen?» mit Puter hest vis a Peider?[2]

Weitere, innerhalb der Romania unübliche oder seltene Erscheinungen wie die Verwendung des Konjunktivs in der indirekten Rede oder die Umkehrung der Reihenfolge Subjekt – Verb nach vorangehendem Adverb, adverbialer Bestimmung oder Nebensatz sind allen bündnerromanischen Idiomen gemein. Sie wurden aus der in Graubünden allgegenwärtigen deutschen Sprache beziehungsweise dem Schweizerdeutschen entlehnt.[2]

Orthographie

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In der Schreibung werden im Surselvischen – ausser in Fremdwörtern – kaum Akzentzeichen verwendet: Dem è «ist» des Rumantsch Grischun entspricht im Surselvischen ei. Dafür verwendet man im Surselvischen den Buchstaben h: Dem istorgia «Geschichte» im Rumantsch Grischun entspricht surselvisch historia. Das Verb «haben», welches in Rumantsch Grischun avair geschrieben wird, wird im Surselvischen haver geschrieben.

Aussprache

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Die Betonung liegt meist auf der vorletzten oder letzten Silbe. In unbetonten Silben werden die Vokale meist zu einem gemurmelten e (Schwa). Im Folgenden werden diejenigen Aussprachefälle aufgelistet, die für einen Deutschsprachigen unklar sein könnten.

Buchstabe Aussprache in IPA (deutsches oder anderes Äquivalent) Beispiel
c vor a, o, u als [k] (dt. unbehauchtes k)
vor i und e als [ts] (dt. z)
canzun ‚Lied‘
december ‚Dezember‘
ch [k] (dt. unbehauchtes k);
kommt nur vor e und i vor
zucher ‚Zucker‘
è [ɛ] (dt. ä) pèr ‚Paar‘
é [e] (dt. ee) pér ‚Birne‘
ei je nach Region [ɛɪ] (Gruob), [] (Cadi) oder [ɔɪ] (Brigels)
(dt. ei in verschiedenen Varianten, auch oi)
treis ‚drei‘
eu [ɛʊ] (dt. ä-u) glieud ‚Leute‘
g als [g] (dt. g)
vor e und i als [ɟ] (ähnlich dt. dj; das i bleibt stumm)
Grischun ‚Graubünden‘
baselgia ‚Kirche‘
gh [g] (dt. g) schenghegiar ‚schenken‘
gl am Wortende und vor i als [ʎ] (ähnlich dt. lj; das i bleibt stumm)
vor a, e, o, u und in manchen Lehnwörtern als [gl] (dt. gl)
egl ‚Auge‘
Glaruna ‚Glarus‘
gn [ɲ] (ähnlich dt. nj) signun ‚Senn‘
h in der Regel stumm
ausser in Lehnwörtern, wo [h] (dt. h)
habitaziun ‚Behausung‘
haluncs ‚Halunke‘
ia [ɪa] (dt. ia) siat ‚sieben‘
ie [ɪɛ] (dt. iä) caschiel ‚Käse‘
iu [ɪʊ] (dt. iu) vendiu ‚verkauft‘
iau [ɪaʊ] (dt. iau) cumiau ‚Abschied‘
r meist [ʀ] (dt. Zäpfchen-r) raps ‚Geld‘
s am Wortanfang (vor Vokal) und am Wortende [s] (dt. s im Wortauslaut oder engl. s)
zwischen Vokalen [z] (dt. s vor Vokal oder engl. z)
vor c, n, m, p, t, tg [ʃ] (dt. sch)
vor b, d, g, v [ʒ] (frz. j)
sulegl ‚Sonne‘
casa ‚Haus‘
finiastra ‚Fenster‘
sbagl ‚Fehler‘
sch am Wortende [ʃ] (dt. sch)
zwischen Vokalen [ʒ] (frz. j)
cudisch ‚Buch‘
pischada ‚Butter‘
tsch [] (dt. tsch) tschiel ‚Himmel‘
tg [c] (ähnlich dt. kj) tgaun ‚Hund‘
ua [ʊa] (dt. ua) qual ‚welcher‘
ue [ʊɛ] (dt. u-e) quel ‚dieser‘
uo [ʊɔ] (dt. uo) buob ‚Bub, Junge‘
uei [ʊɛɪ] (dt. uei) quei ‚dieses‘
uau [ʊaʊ] (dt. uau) uaul ‚Wald‘

Grammatik

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Substantiv, Genus, Artikel

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Surselvisch kennt bestimmte und unbestimmte Artikel, unbestimmte jedoch nur in der Einzahl. Es gibt zwei grammatische Geschlechter: Hauptwörter können männlich oder weiblich sein. Weibliche Hauptwörter enden häufig auf -a. Grundsätzlich wird die Mehrzahl eines Hauptworts durch das Anhängen eines -s gebildet. Endet das Hauptwort bereits auf -s, dann bleibt das Hauptwort unverändert.

Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
ein Haus ina chasa ina casa
ein Dorf in vitg in vitg
das Haus la chasa la casa
das Auto l’auto igl auto
die Häuser las chasas las casas
das Dorf il vitg il vitg
die Dörfer ils vitgs ils vitgs
die Autos ils autos ils autos

In Sursilvan werden Verhältniswörter und bestimmte Artikel zusammengezogen wie im Italienischen. In Rumantsch Grischun dagegen nicht.

Verhältniswort Deutsch il igl ils la l' las
a an al agl als alla all' allas
cun mit cul cugl culs culla cull' cullas
da von dil digl dals dalla dall' dallas
en in el egl els ella ell' ellas
per für pil pigl pils per la per l' per las
sin auf sil sigl sils silla sill' sillas
tier bei tiel tiegl tiels tiella tiell' tiellas

Adjektiv

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Eigenschaftswörter werden dem Hauptwort gewöhnlich nachgestellt und wie dieses nach Geschlecht und Zahl gebeugt – einem männlichen Hauptwort folgt also ein männlich gebeugtes, einem weiblichen Hauptwort ein weiblich gebeugtes Eigenschaftswort, und einem Hauptwort in der Mehrzahl folgt ein Eigenschaftswort in der Mehrzahl. Bei wesentlichen Eigenschaften steht das Eigenschaftswort jedoch vor dem Hauptwort. Beschreibt also eine Eigenschaft eine Sache, dann steht das Eigenschaftswort hinter dem Hauptwort, ist die Eigenschaft bedeutend für den Sinn des Hauptworts, steht das Eigenschaftswort vor dem Hauptwort.

Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
ein grosses Haus ina gronda chasa ina gronda casa
ein grosses Dorf in grond vitg in grond vitg
ein grosser (wichtiger) Mann in grond um in grond um
Ein (körperlich) grosser Mann in um grond in um grond
eine grosse Frau ina dunna gronda ina dunna gronda
die wichtigen Frauen las grondas dunnas las grondas dunnas
die (finanziell) arme Frau la dunna paupra la dunna paupra
die beklagenswerten Männer ils paupers umens ils paupers umens
ein grosses, weisses Haus ina gronda chasa alva ina gronda casa alva

Das Verb esser «sein» wird in der Gegenwart wie folgt gebeugt:

Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
ich bin jau sun jeu sun
du bist ti es ti eis
er ist el è el ei
sie ist ella è ella ei
man ist ins è ins ei
wir sind nus essan nus essan
ihr seid vus essas vus essas
sie sind (männlich) els èn els ein
sie sind (weiblich) ellas èn ellas ein

Das Verb haver «haben» (Rumantsch Grischun: avair) wird in der Gegenwart wie folgt gebeugt:

Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
ich habe jau hai jeu hai / jeu vai
du hast ti has ti has
er hat el ha el ha
sie hat ella ha ella ha
man hat ins ha ins ha
wir haben nus avain nus vein
ihr habt vus avais vus veis
sie haben (männlich) els han els han
sie haben (weiblich) ellas han ellas han

Einfache Fragen werden wie im Deutschen mittels Umkehrung der Wortfolge (Inversion) gebildet, das heisst, die Reihenfolge Hauptwort – Verb des Aussagesatzes wird durch die Reihenfolge Verb – Hauptwort ersetzt:

Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
Er ist Deutscher. El è tudestg. El ei tudestg.
Ist er Deutscher? È el tudestg? Ei el tudestg?

Zahlen bis 10

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Deutsch Rumantsch Grischun Romontsch Sursilvan
null nulla nul, nulla
eins in, ina in, ina
zwei dus, duas dus, duas
drei trais, treia treis, trei
vier quatter quater
fünf tschintg tschun
sechs sis sis
sieben set siat
acht otg otg
neun nov nov
zehn diesch diesch

Sprachbeispiel

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Das folgende Sprachbeispiel stammt aus Jean de La Fontaines Fabel «Der Rabe und der Fuchs». Die Lia Rumantscha hat es erstmals 2004 in ihrer Broschüre Rätoromanisch. Facts and Figures erstmals veröffentlicht;[3] es wird gerne verwendet, um die Unterschiede der verschiedenen bündnerromanischen Idiome darzustellen.[4] Eine Audioversion der surselvischen Fassung kann gehört werden.

Surselvisch L’uolp era puspei inagada fomentada. Cheu ha ella viu sin in pégn in tgaper che teneva in toc caschiel en siu bec. Quei gustass a mi, ha ella tertgau, ed ha clamau al tgaper: «Tgei bi che ti eis! Sche tiu cant ei aschi bials sco tia cumparsa, lu eis ti il pli bi utschi da tuts.»

Rumantsch Grischun La vulp era puspè ina giada fomentada. Qua ha ella vis sin in pign in corv che tegneva in toc chaschiel en ses pichel. Quai ma gustass, ha ella pensà, ed ha clamà al corv: «Tge bel che ti es! Sche tes chant è uschè bel sco tia parita, lura es ti il pli bel utschè da tuts.»

Deutsch Der Fuchs war wieder einmal hungrig. Da sah er auf einer Tanne einen Raben, der ein Stück Käse in seinem Schnabel hielt. Das würde mir schmecken, dachte er, und rief dem Raben zu: «Wie schön du bist! Wenn dein Gesang ebenso schön ist wie dein Aussehen, dann bist du der schönste von allen Vögeln.»

Literatur

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  • Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. Gunter Narr, Tübingen 1999, ISBN 3-8233-4973-2 (auf das Surselvische fokussiert).
  • Gereon Janzing: Rätoromanisch Wort für Wort (Surselvisch, Rumantsch, Bündnerromanisch, Surselvan) (= Kauderwelsch. Band 197). 4. Auflage. Reise Know-How Verlag Peter Rump, Bielefeld 2006, ISBN 3-89416-365-8 (behandelt trotz dem Titel fast ausschliesslich das Surselvische).
  • Alexi Decurtins: Niev vocabulari romontsch sursilvan – tudestg / Neues rätoromanisches Wörterbuch surselvisch – deutsch. Cadonau, Chur 2001, ISBN 3-03900-999-0.
  • Ramun Vieli, Alexi Decurtins: Vocabulari tudestg – romontsch-sursilvan. 5. Auflage. Lia Rumantscha, Chur 1995, OCLC 793586703.
  • Arnold Spescha: Grammatica sursilvana. Casa editura per mieds d’instrucziun / Lehrmittelverlag Graubünden, Chuera/Chur 1989, OCLC 77992907 (diese Grammatik ist ganz auf Romanisch verfasst und enthält keine deutschen Erläuterungen).
  • En lingia directa. In cuors da romontsch sursilvan. Zwei Bände. Lia Rumantscha, Chur 2018, ISBN 978-3-03900-150-7 und ISBN 978-3-03900-152-1.
  • Gion Deplazes: Funtaunas. Istorgia da la literatura rumantscha per scola a pievel. 4 Bände. Lia Rumantscha, Chur 1987; 2., aktualisierte Auflage, ebd. 1993/2011, OCLC 749433263, ISBN 3-03900-005-5, ISBN 3-03900-006-3, ISBN 3-906680-19-3.

Belletristik auf Surselvisch wird unter anderem von der Lia Rumantscha in Chur herausgegeben.

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Commons: Sursilvan – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Ehemalige Website des Vereins Romontschissimo (Memento vom 13. Juni 2021 im Internet Archive).
  2. a b c d Nach Ricarda Liver: Rätoromanisch. Eine Einführung in das Bündnerromanische. Gunter Narr, Tübingen 1999.
  3. Rico Cathomas: Schule und Zweisprachigkeit. Waxmann, Münster 2005, ISBN 3-8309-1575-6, S. 145.
  4. Sibilla Bondolfi: Rätoromanisch mit Volksabstimmungen retten? In: SWI swissinfo.ch. 23. Mai 2017.