Hyperion oder der Eremit in Griechenland ist ein Briefroman von Friedrich Hölderlin, der in den Jahren 1797 und 1799 in zwei Bänden erschien. Neben Hölderlins Lyrik ist er das zweite Hauptwerk des Dichters. In der Vorrede schreibt er: „Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen.“ Die Skepsis war berechtigt. Zwar schrieb der Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer (1772–1838), bei dem der kranke Hölderlin seit 1807 im Tübinger Hölderlinturm lebte, 1835:[1] „Damahls habe ih seinen Hipperion mit der Frau Hoffbuchbinder Bliefers geleßen welcher mir ungemein wohl gefiel.“ Auch schrieb Clemens Brentano 1814 an Rahel Varnhagen:[2] „Sollten Sie nie den Hyperion von Hölderlin, Cotta 1797, gelesen haben, so thuen Sie es sobald als möglich; es ist eines der trefflichsten Bücher der Nation, ja der Welt.“ Eduard Mörike hingegen urteilt zwiespältig:[3] „Man fühlt sich ergriffen, wie mit Götterfingern plötzlich an der leisesten Seelfaser berührt, kräftig erhoben und dann wieder so krank, so pusillanim, hypochopndrisch u. elend, daß von dem, was eigentlich Beruf aller, auch der tragischen Dichtung ist, jede Spur vertilgt wird.“ Aus heutiger Sicht macht „die Dichte, in der sich poetische Sprache und geschichtsphilosophische Argumentation, Zeitkritik und religiöse Metaphorik verbinden, […] die Einzigartigkeit dieses Textes in der deutschen Literatur aus.“[4]

Entstehung und Überlieferung

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Hölderlins Arbeit am Hyperion zog sich von 1792 bis 1798 hin. Immer wieder gestaltete er das Werk um. Zu seinen Lebzeiten wurde außer 1797 und 1799 dem endgültigen Roman im Jahr 1794 das Fragment von Hyperion gedruckt. Zahlreiche schwierig einzuordnende Bruchstücke anderer Fassungen wurden erst ab 1885 nach Handschriften gedruckt, die teils erhalten, teils inzwischen verschollen sind.[5]

1792 und 1793: Tübinger Fassung

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1792 besuchte Hölderlin noch – seit Oktober 1788 und bis September 1793 – das Tübinger Stift. Auf einen Brief seines gleichaltrigen Freundes Christian Ludwig Neuffer vom 20. Juli 1793 antwortete er freudig:[6] „– da, Freund meines Herzens, bin ich dann freilich nicht so verzagt, und meine manchmal, ich müßte doch einen Funken der süßen Flamme, die in solchen Augenbliken mich wärmt, u. erleuchtet, meinem Werkchen, in dem ich wirklich lebe u. webe, meinem Hyperion mitteilen können, und sonst auch noch zur Freude der Menschen zuweilen etwas an's Licht bringen.“ Einen Teil des „Werkchens“ legte er seinem älteren Freund und Förderer Gotthold Friedrich Stäudlin (1758–1796)[7] vor, der Gedichte von ihm veröffentlicht hatte.[8] Stäudlin lobte „die schöne Sprache und das Lebendige der Darstellung“ und riet, „versteckte Stellen über den Geist der Zeit […] einzuschalten“.[9] Vom Tübinger Hyperion ist nichts erhalten.

1794: Waltershäuser Fassung (Fragment von Hyperion)

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Hölderlin war unwillig, nach dem Tübinger Abschlussexamen die von seiner Mutter gewünschte Laufbahn zum evangelischen Pfarrer einzuschlagen. Stäudlin und Friedrich Schiller vermittelten ihm die Stelle eines „Hofmeisters“[10] für Fritz, den ersten, 1784 geborenen Sohn der Charlotte von Kalb in Waltershausen, heute Ortsteil von Saal an der Saale in Unterfranken. Hier arbeitete Hölderlin seinen Tübinger Hyperion unter dem Einfluss der Lektüre von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft und Schillers Über Anmut und Würde radikal um. „Fast keine Zeile blieb von meinen alten Papieren.“[11] Die ersten fünf Briefe der Neufassung – sie hat wie der endgültige Roman Briefform – schickte er an Schiller. Frau von Kalb, die intensiven Anteil nahm, warb bei Schiller für die Annahme, und Anfang November 1794 erschienen die fünf Briefe unter dem von Hölderlin gewählten Titel Fragment von Hyperion in Schillers Zeitschrift Thalia. Das Manuskript ist verloren.

Hyperion schreibt wie im endgültigen Roman an seinen Freund Bellarmin. „Umsonst hab’ ich mein Vaterland verlassen, und Wahrheit gesucht.“[12] Er hat Bellarmin in Rom kennengelernt; der endgültige Roman erwähnt den Beginn der Freundschaft nicht. Im endgültigen Roman schreibt Hyperion die Briefe vom Isthmus von Korinth und von der Insel Salamis; im Fragment von Hyperion schreibt er sie von der Insel „Zante“ – Zakynthos, von „Pyrgo“, dem Ort Pyrgos auf der Peloponnes gegenüber von Zakynthos, von „Kastri“, dem mittelalterlichen Dorf an der Stelle des antiken Delphi, und vom „Cithäron“, dem Kithairon-Gebirge zwischen Attika und Böotien. Hyperion stammt statt wie im endgültigen Roman von der Insel „Tina“ – Tinos – aus „Smyrna“, dem heutigen Izmir in Kleinasien. Dort statt wie im endgültigen Roman auf der Insel „Kalaurea“ – Kalavria – lebt auch „Gorgonda Notara“, durch den Hyperion mit der Geliebten zusammentrifft, die im endgültigen Roman „Diotima“, im Fragment „Melite“ heißt. „Melite! o Melite! himmlisches Wesen!“[13] Auch sie stammt statt von „Kalaurea“ aus Kleinasien, wo ihr Vater am Ufer des „Pactols“ – des Paktolos – lebt. Der Freund, den er in Smyrna trifft, heißt im endgültigen Roman „Alabanda“ und kommt von einem ungenannten Platz in Griechenland. Im Fragment heißt er „Adamas“ und kommt (wie Hyperion im endgültigen Roman) von Tinos. Die Teilnahme Hyperions an der Orlow-Revolte 1770 unter dem Einfluss Alabandas und der Tod Diotimas, die den Ausgang des endgültigen Romans, das ganze Zweite Buch bestimmen, fehlen im Fragment. Diotima wird von ihrem Vater zu sich gerufen, ihr Verbleib ist unbekannt. Hyperion verlässt KLeinasien. „Ich verlies mein Vaterland, um jenseits des Meeres Wahrheit zu finden. […] Ich fand nichts, als dich. Ich sage das dir, mein Bellarmin! Du fandest ja auch nichts, als mich.“[14] So schließt sich der Kreis zum ersten der auf Hyperions Reise zurück nach Kleinasien geschriebenen Briefe.

Hölderlin, inzwischen mit Fritz in Jena, empfing das frisch gedruckte Thalia-Heft aus der Hand Schillers in Gegenwart Goethes, den er nicht erkannte. Mitte November schildert er Neuffer die berühmt gewordene Szene:[15]

„Ich bin nun hier, wie Du siehst, lieber Bruder! […] Auch bei Schiller war ich schon einigemale, das erstemal nicht eben mit Glük. Ich trat hinein, wurde freundlich begrüßt, und bemerkte kaum im Hintergrund einen Fremden, bei dem keine Miene, auch nachher lange kein Laut etwas besonders ahnden ließ. Schiller nannte mich ihm, nannt' ihn auch mir, aber ich verstand seinen Nahmen nicht. Kalt, fast one einen Blik auf ihn begrüßt ich ihn, und war einzig im Innern und Äußern mit Schillern beschäftigt; der Fremde sprach lange kein Wort. Schiller brachte die Thalia, wo ein Fragment von meinem Hyperion u. mein Gedicht an das Schiksaal gedrukt ist, u. gab es mir. Da Schiller sich einen Augenblik entfernte, nahm der Fremde das Journal vom Tische, wo ich stand, blätterte neben mir in dem Fragmente, u. sprach kein Wort. Ich fült' es, daß ich über und über roth wurde. Hätt' ich gewußt, was ich jezt weiß, ich wäre leichenblas geworden. […] Ich gieng, u. erfuhr an demselben Tage in dem Klubb der Professoren, was meinst Du? daß Goethe diesen Mittag bei Schiller gewesen sei. Der Himmel helfe mir, mein Unglük, u. meine dummen Streiche gut zu machen, wenn ich nach Weimar komme. Nachher speist ich bei Schiller zu Nacht, wo dieser mich so viel möglich tröstete, auch durch seine Heiterkeit, u. seine Unterhaltung, worinn sein ganzer kolossalischer Geist erschien, mich das Unheil, das mir das erstemal begegnete, vergessen lies.“

In Weimar wurde Hölderlin Anfang Januar 1795 mit Goethe auch persönlich bekannt. „Ruhig, viel Majestät im Blike, u. auch Liebe. […] Man glaubt oft einen recht herzensguten Vater vor sich zu haben.“[16] Die Erziehung von Fritz fiel ihm zunehmend schwer, und im Januar 1795 trennte er sich einvernehmlich von der Familie von Kalb.

Ende 1794 bis Mitte 1795: die Rahmenerzählungen: Prosaentwurf, metrische Fassung und Hyperions Jugend

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In Jena hörte Hölderlin begeistert die Vorlesungen Johann Gottlieb Fichtes und schloss Freundschaft schloss mit Isaak von Sinclair. Ende Mai oder Anfang Juni 1795 aber verließ er die Stadt fluchtartig und zog zu Mutter, Schwester und Stiefvater nach Nürtingen, vielleicht wegen des Gefühls erdrückender Übermacht Schillers und Fichtes, „Ein vertriebener Wandrer / Der vor Menschen und Büchern floh“, wie er im Entwurf zu seinem Gedicht Heidelberg schrieb.[17] Es folgte ein halbes Jahr des Wartens in düsterer Stimmung auf eine neue Hofmeisterstelle, die ihm schließlich durch Johann Gottfried Ebel im Haus des Frankfurter Kaufmanns Jakob Friedrich Gontard-Borkenstein (1764–1843) vermittelt wurde.

In Jena und Nürtingen gestaltete Hölderlin den Hyperion erneut gründlich und mehrfach um, schrieb schon am 26. Januar 1795 an Georg Wilhelm Friedrich Hegel:[18] „Meine productive Tätigkeit ist izt beinahe ganz auf die Umbildung der Materialien von meinem Romane gerichtet. Das Fragment der Thalia ist eine dieser rohen Massen. Ich denke bis Ostern damit fertig zu seyn, laß mich indes von ihm schweigen.“ Aus den Briefen schuf er eine Rahmenerzählung, und zwar dreifach, nämlich

  • als Prosaentwurf,
  • als Gedicht in fünffüßigen Jamben, die metrische Fassung, und
  • nach deren baldigem Abbruch als Wiederauflösung in Prosa, dem Inhalt entsprechend von Hölderlin Hyperions Jugend überschrieben.

Alle drei Fassungen blieben Bruchstücke. In allen trifft der Erzähler des Rahmens, ein junger Mann, auf einer Reise den greisen Hyperion, der ihm als Binnenerzähler von seinem Leben berichtet.

„Unschuldiger Weise[20] hatte mich die Schule des Schiksaals und der Weisen ungerecht und tyrannisch gegen die Natur gemacht. Der gänzliche Unglaube, den ich gegen alles hegte, was ich aus ihren Händen empfieng, lies keine Liebe in mir gedeihen. […]

Ich reiste; und wünschte oft ewig zu reisen.

Eben auf dieser Reise war es, daß ich in W., wo ich mich länger als sonstwo aufhielt, auf einen Fremden aufmerksam wurde, der seit einiger Zeit ein benachbartes Landhaus bewohnte, und die Gemüther der dortigen Menschen desto mer beschäftigte, je ruhiger diese das seinige zu lassen schienen. […]

Ich gieng hinaus, ihn zu besuchen. Ich traf ihn in seinem Pappelwalde.“

Der Prosaentwurf bricht vor der eigentlichen Erzählung Hyperions ab.

  • Metrische Fassung:[21]

0000Gestählt vom Schiksaal und den Weisen war
Durch meine Schuld mein jugendlicher Sinn
Tyrannisch gegen die Natur geworden.
Unglaubig nahm ich auf, was ich wie sonst
Aus ihrer mütterlichen Hand empfieng,
So konnte keine Liebe mir gedeihen. […]
Ich wanderte durch fremdes Land, und wünscht’
Im Herzen oft, ohn Ende fort zu wandern.
0000Da hört’ ich einst von einem weisen Manne,
Der nur seit kurzem erst ein nahes Landhaus
Bewohn’, und unbekannt, doch aller Herzen
Der kleinen, wie der größern, mächtig sei,
Der meisten freilich, weil er fremd’ und schön
Und stille wäre, doch auch einiger,
Die seinen Geist verständen, ahndeten.
Ich gieng hinaus, den seltnen Mann zu sprechen.
Ich traf ihn bald in seinem Pappelwalde.

Aus Hyperions Binnenzählung ist nur ein Bruchstück überliefert.

  • Hyperions Jugend:[22]

„In den ersten Jahren der Mündigkeit, wenn der Mensch vom glüklichen Instincte sich losgerissen hat, und der Geist seine Herrschaft beginnt, ist er gewöhnlich nicht sehr geneigt, den Grazien zu opfern.

Ich war vester und freier geworden in der Schule des Schiksaals und der Weisen, aber streng ohne Maas, in vollem Sinne tyrannisch gegen die Natur, wiewohl ohne die Schuld meiner Schule. Der gänzliche Unglaube, womit ich alles aufnahm, lies keine Liebe in mir gedeihen. […]

Ich reiste, und wünscht’ oft ewig fortzureisen.

Da hört’ ich einst von einem guten Manne, der seit kurzem ein nahes Landhaus bewohne, und ohne sein Bemühn recht wunderbar sich aller Herzen bemeistert habe, der kleineren, wie der größern, der meisten freilich, weil er fremd und freundlich wäre, doch wären auch einige, die seinen Geist verständen, ahndeten.

Ich gieng hinaus, den Mann zu sprechen. Ich traf ihn in seinem Pappelwalde.“

Einzelnachweise

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  1. Stuttgarter Ausgabe Band 7, 3, S. 133–134.
  2. Stuttgarter Ausgabe Band 7, 2, S. 430.
  3. Stuttgarter Ausgabe Band 7, 3, S. 126.
  4. Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden, 3. Auflage 2009.munzinger.de Abgerufen am 25. Juli 2014.
  5. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 336–341.
  6. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 1, S. 86.
  7. Gotthold Friedrich Stäudlin in: Neue Deutsche Biographie. (deutsche-biographie.de) Abgerufen am 27. Juli 2014.
  8. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 2, S. 547.
  9. Stuttgarter Ausgabe Band 7, 1, S. 37–38.
  10. das ist eines Hauslehrers, der Hausgenosse der Familie des Zöglings war; Stuttgarter Ausgabe Band 6, 2, S. 715.
  11. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 1, S. 137.
  12. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 164.
  13. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 167.
  14. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 183.
  15. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 1, S. 138–141.
  16. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 1, S. 151.
  17. Stuttgarter Ausgabe Band 2, 2, S. 410.
  18. Stuttgarter Ausgabe Band 6, 1, S. 154.
  19. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 186.
  20. „Unschuldiger Weise“ bezieht sich nicht auf den Rahmenerzähler, der, wie die metrische Fassung zeigt, schuldig war.
  21. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 187.
  22. Stuttgarter Ausgabe Band 3, S. 199.