Georg Messner
Eine Enzyklopädie predigt nicht, sondern beschreibt. Eine Enzyklopädie erklärt nicht, wie bestimmte Wörter verwendet oder verstanden werden sollten, sondern gibt wieder, wie sie verwendet und verstanden werden. Wenn eine breite Mehrheit unter einem Wort etwas anderes versteht als du, kannst du nicht beanspruchen, dass dein Verständnis das richtigere, bessere oder enzyklopädischere wäre – auch nicht mit der Behauptung, dein und nur dein Verständnis wäre „wissenschaftlich“. Eine Enzyklopädie misst der Überzeugung einer angeblichen oder tatsächlichen Wissenschaft genau so viel Bedeutung bei wie der Überzeugung jeder anderen Glaubens- und Kulturgemeinschaft auch. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Wissenschaftlichkeit oder Nichtwissenschaftlichkeit einer Begriffsbestimmung wichtiger als ihre Verbreitung nehmen zu wollen. Eine Enzyklopädie bezieht genau so wenig Stellung für oder gegen bestimmte Erkenntnistheorien oder Sprachregelungen wie für oder gegen bestimmte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.
Das Wort „Genom“ bedeutet für eine Enzyklopädie nicht deshalb das Gleiche wie für uns Genetiker, weil uns das so zustehen würde, sondern nur deshalb, weil unser Verständnis zufällig das einzige verbreitete ist – anscheinend besteht allgemeine Übereinstimmung darin, dass es mutwillige Verständigungserschwernis wäre, das Wort „Genom“ anders zu verwenden als wir. Eine Enzyklopädie übernimmt unsere Begriffsbestimmung aufgrund dieser allgemeinen Anerkennung, nicht aufgrund unserer akademischen Priesterweihe. Es ist nicht Aufgabe einer Enzyklopädie, volkserzieherisch oder sonstwie weltverbessernd einzugreifen, wo die Priesterweihe vorliegt, die Anerkennung aber fehlt.
Siehe auch: Neutraler Standpunkt, Vorübergehende Gäste, Wissenschaftliche Forschungen zu PC