Zwischenbetrachtungen

Für mich war Wikipedia immer ein unglaublich visionäres Projekt: Tausende Freiwillige kommen zusammen und schreiben, aus ihrem eigenen Wissen und Willen heraus, eine Enzyklopädie, um anderen die Möglichkeit zu geben, an diesem Wissen teilzuhaben und es nutzbringend weiterzuverwenden. Wie Jimmy Wales sagte: „Imagine a world in which every single human being can freely share in the sum of all knowledge. That's what we're doing.“ Wikipedia war für mich nie der Versuch, einen neuen Brockhaus oder einen Myspace-Ersatz zu schaffen.

Viele der aktuellen Konflikte in der Wikipedia beruhen aber genau auf diesem Gegensatz. Für nicht wenige Benutzer verkörpert der Brockhaus das, was eine Enzyklopädie ausmacht. Die Beschränkungen, unter denen er arbeitet, werden dabei nicht als für ein Printmedium notwendiges Übel angesehen, sondern eher noch als besonderes herausstellendes Merkmal gelobt. Für nicht wenige andere Benutzer ist Wikipedia eine große Gemeinschaft, wo man sich hauptsächlich mit anderen Leuten austauschen, Spaß haben, Langeweile vertreiben und eigene Seiten entwickeln kann. Tatsächliche Produktivität in den verschiedensten Formen, die es in der Wikipedia gibt, spielt da nur eine untergeordnete Rolle.

Diese beiden Standpunkte in der Wikipedia vertreten zu sehen, ist für ein funktionierendes Freiwilligenprojekt unabdingbar, denn erst durch eine Vielfalt an Meinungen und ihren Austausch kann sich Wikipedia weiterentwickeln. Problematisch werden sie erst dann, wenn sie zum Dogma erhoben werden und die Notwendigkeit für Kompromisse und Aufeinanderzugehen nicht mehr gesehen wird. Wenn das geschieht und die Polarisierungen zunehmen, kommt es immer wieder zu einzelnen, sehr heftigen Konflikten. Statt zwischen den Positionen zu vermitteln und Lösungen zu suchen, die von der breiten Mehrheit getragen werden können, werden Meinungsbilder aufgesetzt, die eher noch dazu geeignet sind, die Positionen zu verhärten. In Diskussionen werden nicht Argumente vorgetragen, die Kosten und Nutzen miteinander abwägen, weil die Basis dieser Positionen rein ideologisch und nicht pragmatisch bedingt ist. Respekt und Achtung voreinander und den Meinungen und Standpunkten des Anderen gehen dabei zuerst verloren. Warum sollte man „Idioten“ auch Achtung schenken? Prinzipiellen Betrachtungen wird gegenüber rationalen ein höherer Stellenwert eingeräumt, weil Ideologien verlangen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Aufgrund dieser Verhärtung in Positionen hat sich in der Wikipedia gleichzeitig ein geradezu viraler Konservatismus verbreitet. Änderungen, die vor einem oder zwei Jahren kaum beachtet worden wären, werden heute sofort kritisiert und, wenn möglich, mit Löschanträgen versehen. Statt mit neuen Ideen zu experimentieren und aus der Praxis zu ermitteln, ob ein Vorschlag nützlich ist, werden sofort sämtliche Horrorszenarien ausgearbeitet und neuen Konzepten entgegengestellt. Teilweise wird so heftig am „status quo“ festgehalten, dass Benutzern mit neuen Ideen geradezu feindselig begegnet wird. Sinn der Aktion ist dabei natürlich, die eigene Position zu zementieren und jeden „Sieg“ des „feindlichen Lagers“ zu verhindern. In dem Moment wird Wikipedia nur noch zum Mittel, mit dem diese Konflikte ausgetragen werden können.

Die wahre Hoffnung für Wikipedia liegt dann auch nicht bei den Extremisten auf beiden Seiten. Die wahre Hoffnung liegt in den gemäßigten Benutzern, die verstehen, dass Wikipedia weder ohne Projektziel noch ohne Community funktionieren kann, dass sich Wikipedia ohne Kompromisse und Win-Win-Lösungen nicht weiterentwickeln wird, dass alles einen Preis hat und Freiwilligenarbeit nicht kostenlos ist, nur weil man kein Geld dafür bezahlen muss. Und sie liegt bei ihnen, weil sie wissen, dass Wikipedia Probleme hat und für ihre Lösung eine Vielzahl von Änderungen notwendig sind. Ohne diese Änderungen wird die Stagnation in der Artikelqualität nicht aufhören, die Mehrheit dringend überarbeitungswürdiger Artikel nicht angefasst, die Mängel bei der Anwerbung, Eingliederung und Betreuung von Benutzern nicht angegangen, POV-Kriegern und Feldforschern nicht die Tür gezeigt, die große Verantwortung der Wikipedia in den Schulen und Universitäten nicht beleuchtet. Wenn es Probleme mit den Wikimedia-Servern gibt, erscheint manchmal die Nachricht „Wikipedia has a problem“. Jedes Mal, wenn ich das sehe, denk ich mir „nicht nur eins, Hunderte“. Bin ich der Einzige?

Für eine lange Zeit war ich naiv genug zu glauben, dass diese Benutzer aktiv werden und Wikipedia weiterentwickeln würden. Viele Ereignisse der letzten Wochen haben aber gezeigt, dass sie dazu nicht in der Lage sind, dass die Polarisierungen eben doch zu verkrustet, die Kompromissbereitschaft nicht mehr vorhanden ist. Der Stress, der dadurch entsteht, hat sich bei mir schon lange in keinem Verhältnis mehr zur Freude an der Mitarbeit im Projekt entwickelt. Entsprechend werde ich mich für eine unbestimmte Zeit von der Wikipedia zurückziehen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, deswegen schließe ich eine Rückkehr auch nicht aus. Oder der eine oder andere macht was aus meinen Gedanken hier. Macht's gut!