Erbgesundheitsgericht
Die Erbgesundheitsgerichte (E.G.G.), auch Sterilisierungsgerichte genannt, wurden am 1. Januar 1934 im Deutschen Reich auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933[1] eingeführt. Sie entschieden in äußerlich rechtsförmig gestalteten Verfahren über Anträge zur Zwangssterilisation geistig und körperlich behinderter Menschen, Patienten psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten sowie Alkoholkranker. Damit wurden sie zum Werkzeug zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassenhygiene, die den Menschen zum bloßen Objekt staatlicher Verfügungsgewalt herabwürdigte.[2]
Bis Mai 1945 wurden aufgrund der Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte etwa 350.000 Menschen zwangssterilisiert.[3] Nach dem Anschluss Österreichs wurden 1939 auch dort Erbgesundheitsgerichte eingerichtet.[4]
Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten
BearbeitenDas Erbgesundheitsgericht wurde auf Antrag des „Unfruchtbarzumachenden“, seines Pflegers oder – mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts – seines gesetzlichen Vertreters tätig (§ 2). Zur Antragstellung waren – gesetzessystematisch nachrangig, in der Praxis allerdings in erster Linie – auch beamtete Ärzte sowie bei Insassen einer Kranken-, Heil-, Pflege- oder Strafanstalt auch der Anstaltsleiter berechtigt (§ 3).
Organisatorisch war das Erbgesundheitsgericht einem Amtsgericht angegliedert, oftmals für den Bezirk eines Landgerichts.[5] Es musste mit einem Amtsrichter als Vorsitzenden, einem beamteten Arzt und einem weiteren für das Deutsche Reich approbierten Arzt besetzt sein, der mit der „Erbgesundheitslehre besonders vertraut“ zu sein hatte (§ 6 Abs. 1). Für die Zuständigkeit des Gerichts war der allgemeine Gerichtsstand des „Unfruchtbarzumachenden“ entscheidend (§ 5). Die Öffentlichkeit war bei den Verfahren der Erbgesundheitsgerichte nicht zugelassen (§ 7 Abs. 1).
Für das Verfahren vor den Erbgesundheitsgerichten galt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 7 Abs. 2). Das Gericht entschied nach freier Überzeugung mit Stimmenmehrheit aufgrund mündlicher Beratung (§ 8).
Rechtsmittelgericht für die Beschlüsse des Erbgesundheitsgerichts war das bei den Oberlandesgerichten zu bildende Erbgesundheitsobergericht (E.G.O.G). Es entschied endgültig (§ 10 Abs. 3) über die Beschwerden des Antragstellers, des beamteten Arztes oder des „Unfruchtbarzumachenden“ (§ 9) und wurde neben dem Mitglied des Oberlandesgerichtes wie das Instanzgericht besetzt. Beim Erbgesundheitsobergericht München etwa war Ernst Rüdin, der Gutachten nur anhand von Akten verfasste, von 1934 bis 1943[6] Beisitzer.
Die Erbgesundheitsgerichte entschieden von 1935 bis 1939 auch über die Versagung oder Zurücknahme des Ehetauglichkeitszeugnisses nach dem Ehegesundheitsgesetz.[7]
Gegenstand der „Erbgesundheitsverfahren“ waren etwa „Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „Erbliche Fallsucht“ und „Manisch-depressives Irresein“ sowie „schwerer Alkoholismus“, seltener „Erbliche Taubheit“, „Schwere Mißbildungen“, „Erbliche Blindheit“ und „Chorea Huntington“.[8]
Aufhebung der Gerichtsbeschlüsse (1998) und Ächtung des Gesetzes (2007)
BearbeitenDurch § 1 des Gesetzes zur Aufhebung von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 (Artikel 2 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998, BGBl I S. 2501 ff.) wurden sämtliche Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte, die eine Unfruchtbarmachung angeordnet hatten, aufgehoben.[9] Der Deutsche Bundestag hat in seiner Sitzung am 24. Mai 2007 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 geächtet.[10]
Literatur
Bearbeiten- Annette Hinz-Wessels: NS-Erbgesundheitsgerichte und Zwangssterilisation in der Provinz Brandenburg, be.bra, Berlin 2004, ISBN 3-937233-11-3.
- Paul Nicolai Ehlers: Die Praxis der Sterilisierungsprozesse in den Jahren 1934–1945 im Regierungsbezirk Düsseldorf unter besonderer Berücksichtigung der Erbgesundheitsgerichte Duisburg und Wuppertal. München 1994. ISBN 3-89481-066-1.
- Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Justiz und Erbgesundheit (= Juristische Zeitgeschichte, Band 17). Recklinghausen 2009, ISSN 1615-5718.
- Franz-Werner Kersting: Anstaltsärzte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Das Beispiel Westfalen. Schöningh, Paderborn 1996. ISBN 3-506-79589-9.
- David Koser u. a.: Erbgesundheitsgericht Berlin. In: Hauptstadt des Holocaust. Orte nationalsozialistischer Rassenpolitik in Berlin. Stadtagentur, Berlin 2009, Ort 44, S. 163, ISBN 978-3-9813154-0-0. Volltext (PDF; 1,3 MB)
- Andreas Scheulen: „Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassengedankens“. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und die Ausgrenzung der Opfer. In: Betrifft JUSTIZ Nr. 94 (2008), S. 285–289.
- Andreas Scheulen: Zur Rechtslage und Rechtsentwicklung des Erbgesundheitsgesetzes 1934, in: Margret Hamm: Lebensunwert zerstörte Leben - Zwangssterilisation und "Euthanasie", 2006. ISBN 978-3888643910.
- Jürgen Simon: Die Erbgesundheitsgerichtsbarkeit im OLG-Bezirk Hamm. In: Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Justiz und Nationalsozialismus (= Juristische Zeitgeschichte, Band 1). Düsseldorf 1993. S. 131–167.
- Klaus Wiesenberg: Die Rechtsprechung der Erbgesundheitsgerichte Hanau und Gießen zu dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933, ergänzt durch eine Darstellung der heutigen Rechtslage zur Unfruchtbarmachung Dissertation jur. (Universität Frankfurt am Main), 1986
- Harry Seipolt: Kann der Gnadentod gewährt werden: Zwangssterilisation und NS-"Euthanasie" in der Region Aachen, Alano Herodot Verlag 1995, ISBN 3-893992-17-0.
Weblinks
BearbeitenGesetzestext im Reichsgesetzblatt
BearbeitenBundestagsdrucksachen
Bearbeiten- Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte, BT-Drs. 13/10708 vom 13. Mai 1998 (PDF-Datei; 89 kB)
- Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Nichtigerklärung des Erbgesundheitsgesetzes, BT-Drs. 16/1171 vom 5. April 2006 (PDF-Datei; 53 kB)
- Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke zur Nichtigerklärung des Erbgesundheitsgesetzes, BT-Drs. 16/2384 vom 10. August 2006 (PDF-Datei; 60 kB)
- Antrag der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und SPD zur Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, BT-Drs. 16/3811 vom 13. Dezember 2006 (PDF-Datei; 74 kB)
- Bericht und Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zu Anträgen zur Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes, BT-Drs. 16/5450 vom 23. Mai 2007 (PDF-Datei; 116 kB)
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ RGBl. 1933 I S. 529; Inkrafttreten: 1. Januar 1934
- ↑ Antrag der Bundestagsfraktionen der CDU/CSU und SPD zur Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (BT-Drs. 16/3811, PDF, 76 kB).
- ↑ Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte, BT-Drs. 13/10708 (PDF; 461 kB).
- ↑ Verordnung über die Einführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und des Gesetzes zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes in der Ostmark vom 14. November 1939 (RGBl. I S. 2230–2232, auch GBlfdLÖ. Nr. 1438/1939); In-Kraft-Treten: 1. Januar 1940
- ↑ Preußen: Ausführungsverordnung vom 29. Januar 1934 (GS S. 52); Bayern: Vollzugsverordnung vom 21. Dezember 1933 (GVBl. S. 522)
- ↑ Ernst Klee: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. S. Fischer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-10-039310-4, S. 68.
- ↑ Erste Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes vom 29. November 1935 (RGBl. I S. 1419)
- ↑ Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Beiheft 3). Königshausen & Neumann, Würzburg 1995, ISBN 3-88479-932-0 (Zugleich: Dissertation Würzburg 1995), S. 125–132 (zur Erbgesundheitsgerichtsbarkeit Mainfrankens von 1933 bis 1940).
- ↑ BGBl. 1998 I S. 2501; In-Kraft-Treten: 1. September 1998.
- ↑ Plenarprotokoll 16/100 des Deutschen Bundestages vom 24. Mai 2007, Tagesordnungspunkt 27, S. 10285 (PDF; 2,5 MB); Das Parlament, Ausgabe 22/23 2007.