Die Kriminalsoziologie ist mit der Kriminalität als gesellschaftlicher Erscheinung befasst. Die Kriminalsoziologie gilt in Deutschland überwiegend als ein Teilbereich der Soziologie und eine Bezugswissenschaft der Kriminologie. Im Selbstverständnis der angloamerikanischen Kriminologie und der deutschen Kritischen Kriminologie ist Kriminalsoziologie hingegen identisch mit Kriminologie. Bis auf die Grundlegung durch den Belgier Adolphe Quetelet, den Franzosen Émile Durkheim sowie einige frühe Ansätze des deutsch-österreichischen Kriminologen Franz Exner stammen die kriminalsoziologischen Impulse ganz überwiegend aus den USA.

Abgrenzung zur Kriminologie und zur Devianzsoziologie

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Kriminalsoziologie beschäftigt sich mit den sozialen Bedingungen von Kriminalität und den gesellschaftlichen Reaktionen auf sie.[1] Im deutschen Sprachraum wird die Kriminalsoziologie überwiegend (eine Ausnahme bilden die Kritische Kriminologie sowie Institutionen wie das 2016 geschlossene Institut für Kriminologische Sozialforschung in Hamburg) institutionell von der Kriminologie unterschieden, eine Besonderheit, die in angloamerikanischen Ländern nicht existiert. Dort ist Kriminologie ein sozialwissenschaftlich dominiertes Fach und wird von Sozialwissenschaftlern verschiedener Fachgebiete betrieben. In Deutschland gehört die Kriminologie bis auf die oben genannten Ausnahmen überwiegend zu den Rechtswissenschaften, die Kriminalsoziologie wird lediglich als eine ihrer Bezugswissenschaften genannt. Sie ist nicht identisch mit der Devianzsoziologie bzw. der Soziologie Abweichenden Verhaltens. Die genannten speziellen Soziologien sind auch mit nichtkonformen Verhalten befasst, das nicht zwangsläufig einer Straftat entspricht. Die Kriminalsoziologie beschränkt sich auf juristisch als solche definierte Kriminalität (Delinquenz).[2]

Grundlegung durch Quetelet und Durkheim

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Adolphe Quetelet

Bereits die Klassiker soziologischen Denkens beschäftigten sich mit dem Problem der Kriminalität. Im Zusammenhang der „socialen Frage“ wurde das Verbrechen in verschiedenen Varianten mit Armut, Verstädterung, Entwurzelung und Proletarisierung in Verbindung gebracht. Dafür steht besonders Friedrich Engels mit seiner Schrift Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Karl Marx betrieb mit seiner Arbeit zum Gesetz über den Holzdiebstahl „Normgeneseforschung“ und deutete damit einen zentralen Gedanken der späteren Kriminalsoziologie an.[3] Ferdinand Tönnies legte mehrere Untersuchungen zum Thema vor,[4] wie zum Beispiel „Das Verbrechen als sociale Erscheinung“.[5]

Die wichtigsten Impulse für die spätere Kriminalsoziologie entstammten der Moralstatistik Adolphe Quetelets und der Soziologie Émile Durkheims.[6]

Quetelet begründete die Kriminalstatistik als Teilbereich der Moralstatistik und steht damit am Anfang einer empirisch fundierten kriminalsoziologischen Forschung. Er ging davon aus, dass Kriminalität und soziale Bedingungen in spezifischer Weise zusammenhängen. In der von ihm so benannten „mécanique sociale“ die Ursachen der sozialen Erscheinungen mit statistischen Methoden zu erforschen. Dabei stützte er sich auf das von Pierre-Simon Laplace in Anschluss an Kant formulierte Kausalitätsgesetz[7] und die ebenfalls von Laplace weiterentwickelte Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit gelang es Quetelet, Regelhaftigkeiten in der empirischen Verteilung von Kriminalität zu ermitteln. Er erkannte, dass das jährliche Kriminalitätsaufkommen bei den wichtigsten Deliktarten konstant war. Daraufhin formulierte er 1869 seine These vom „Verbrechensbudget“: Es gebe ein Budget von erschreckender Regelmäßigkeit. Es sei das Budget der Gefängnisse, der Galeeren und des Schafotts. Es lasse sich vorhersehen, was im jeweils nächsten Jahr zu erwarten sei.[8]

Eine der wichtigsten Beobachtungen Quetelets ist, dass der Gipfel der Alterskurve der Kriminalität sich zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr befindet, vorher steigt sie rasant an, danach fällt sie langsam und gleichmäßig ab. Im Hinblick auf die Geschlechtsverteilung ermittelte er, dass das Kriminalitätsaufkommen der Frauen nur ein Viertel des Kriminalitätsaufkommens der Männer ausmacht. Weiterhin sah er Zusammenhänge zwischen Jahreszeiten, Regionen und dem Kriminalitätsaufkommen: Während sich in nördlichen Regionen und auch in der kalten Jahreszeit Eigentumsdelikte häufen, kommen in südlichen Regionen und auch in der warmen Jahreszeit Gewaltverbrechen öfter vor. Auf Basis seiner statistischen Berechnungen wandte Quetelet das Konzept des Mittelwerts an. Die Wahrscheinlichkeit, mit der in bestimmten Bevölkerungsgruppen kriminelle Handlungen ausgeführt werden, stellte er über eine einzige Maßzahl, den „penchant au crime“, dar. Das führte zu häufigen Missverständnissen, weil die Maßzahl als diagnostische Größe missverstanden wurde, tatsächlich aber eine reine Wahrscheinlichkeitsziffer war.[9]

 
Émile Durkheim

Quetelet betonte, dass Kriminalität nicht durch Armut verursacht werde. Vielmehr meinte er: „Der Mensch wird nicht dadurch zum Verbrechen getrieben, dass er wenig besitzt, sondern viel häufiger dadurch, dass er sich unvermittelt vom Wohlstand ins Elend versetzt sieht und nun nicht mehr alle Bedürfnisse befriedigen kann, die er sich zugelegt hatte.“[10]

Durkheims Arbeiten werden von René König als eigentlicher Beginn des modernen kriminalsoziologischen Denkens betrachtet.[11] Für Durkheim ist Kriminalität normal und für den Bestand sozialer Ordnung notwendig. Die Geltung sozialer Normen erschließe sich aus der gesellschaftlichen Sanktionierung von Abweichungen. Demnach sei Kriminalität integrierender Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft. Diese These leitete Durkheim aus der Beobachtung ab, dass Kriminalität zu jeder Zeit und in jeder beobachteten Gesellschaft vorgekommen sei. Allerdings sei ein – wie auch immer bemessenes – erhöhtes Kriminalitätsaufkommen pathologisch.[12]

Darüber hinaus analysierte Durkheim in seiner Studie „Über soziale Arbeitsteilung“ (1893) den Zusammenhang von sozialem Wandel und Kriminalität. Im Prozess der Industrialisierung erkannte er einen Verlust traditioneller Werte, der sich zu einem Zustand der Norm- und Regellosigkeit (Anomie) steigern kann. In einem solchen gesellschaftlichen Zustand fehlen kollektive moralische Prinzipien, an denen sich Menschen in ihrem Verhalten orientieren können. Dies hat zur Folge, dass sich das Kriminalitätsaufkommen über das als „normal“ angesehene erhöht. In seinem Buch über den Selbstmord (1897) modifizierte er den Begriff der Anomie. Menschliche Bedürfnisse seien prinzipiell unbegrenzt, sofern sie nicht mäßigenden Einflüssen von außen unterlägen. Fehlten solche Einflüsse, komme es auf individueller Ebene zu vielfältigen sozialen Fehlanpassungen.[13]

Ätiologische Kriminalsoziologie

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Der Begriff Ätiologie stammt aus dem Griechischen (αἰτία) und bedeutet unter anderem Ursache. Ätiologische Kriminalitätstheorien sind somit Theorien über die Ursache des Verbrechens. Die ätiologische Kriminalsoziologie forscht nach den gesellschaftlichen Ursachen delinquenten Verhaltens. Für die ätiologische Kriminalsoziologie sind auch am ehesten Vorläufer aus dem deutschsprachigen Raum auszumachen, wie Forschungsarbeiten z. B. für den deutsch-österreichischen Kriminologen Franz Exner in Teilbereichen zeigen konnten.[14]

Sozialökologischer Ansatz (Chicago School)

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Robert Ezra Park, Begründer der Chicagoer Schule

Die Chicago School der Soziologie entstand in den frühen 1920er Jahren an der University of Chicago. Ihre Vertreter (besonders Robert E. Park und Ernest W. Burgess) fragten sich vor dem Hintergrund des raschen sozialen Wandels und der rasanten Verstädterung, wie urbane Umgebungen kriminelle Handlungen hervorbringen. Sie identifizierten delinquency areas, in denen das Kriminalitätsaufkommen besonders hoch war.

Solche delinquency area seien die das Geschäftszentrum der Städte umgebenden Quartiere (transition zones), in denen eine heterogene Bevölkerung mit durchweg niedrigem sozialökonomischen Status lebe. Die Familienverhältnisse seien häufig instabil, die Wohnungen von schlechter Qualität. Die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner spiele dabei keine besondere Rolle. In weiter vom Zentrum entfernten Wohngebieten sinke das Kriminalitätsaufkommen wieder deutlich.

Die Chicagoer Soziologen erklärten das Phänomen der transition zones damit, dass die Bewohner der Problemgebiete ausgehend von den Wandlungsprozessen in den nahe liegenden Geschäftszentren sozial desintegriert seien. Traditionelle Institutionen (Familie, Nachbarschaft, Schule) spielten in den transition zones keine tragende Rolle.[15]

Elemente dieses sozialökologischen Ansatzes kehrten 1982 mit der Broken-Windows-Theorie in die kriminologische Debatte zurück.

Anomietheorie (Robert K. Merton)

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Robert K. Merton (1965)

Robert K. Merton baute seit 1938 Durkheims Ansatz zu einer speziellen Kriminalitätstheorie aus und entwickelte eine gesonderte Anomie-Theorie. Bei ihm drückt sich Anomie als eine Kluft zwischen verbreiteten gesellschaftlichen Zielen und der Verteilung von Mitteln zur Erreichung dieser Ziele aus. Dieser Widerspruch könne (unter anderen Möglichkeiten wie Rückzug oder Ritualismus) zu Straftaten führen.[16]

Andere Kriminalsoziologen bereicherten den merton'schen Ansatz um weitere Elemente. So betonten Richard A. Cloward und Lloyd E. Ohlin, dass die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen stark von der Verfügbarkeit illegitimer Mittel abhänge. Dieser Ansatz schließt an die Subkulturtheorien an.[17]

Zeitgenössische Weiterentwicklungen der Anomietheorie sind die General Strain Theory von Robert Agnew[18] und die Institutionelle Anomietheorie von Steven F. Messner und Richard Rosenfeld.[19]

Theorien der Subkultur und des Kulturkonflikts

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1938 legte Thorsten Sellin eine kriminalsoziologische Kulturkonflikttheorie vor, die sich anfangs hauptsächlich auf amerikanische Einwanderer-Kriminalität aus der Zwischenkriegszeit bezog und an die Forschungsergebnisse der Chicago School anknüpft. Heute wird dieser Ansatz unter anderen auf die kriminalsoziologische Analyse der dschihad-salafistischen Subkultur in Deutschland verwendet.[20]

Albert K. Cohen erarbeitete in den 1950er Jahren eine Subkulturtheorie, nach der abweichende Gruppen eigene Normen entwickeln, die sich bewusst von denen der weißen Mittelklasse absetzen: „Das Kennzeichen der verwahrlosten Gruppenkultur - oder der Kultur der Bande - (...) ist die ausdrückliche und vollständige Ablehnung der Maßstäbe der Mittelklasse und die Bejahung ihres genauen Gegenteils.“[21]

Soziale Lerntheorie

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Lerntheoretische Überlegungen wurden dann erstmals 1939 von Edwin H. Sutherland in die Kriminalsoziologie eingebracht. Mit seiner Theorie der differentiellen Assoziation (oder: Theorie der differentiellen Kontakte) legte er dar, dass kriminelles Verhalten wie jedes andere Verhalten erlernt sei.[22]

Auch die Theorie der Neutralisierung wird den sozialen Lerntheorien zugeordnet. Gresham M. Sykes und David Matza wandten sich damit gegen die Annahme der Subkulturtheorie, nach der jugendliche Delinquente abweichenden Gruppen-Normen folgen.[23]

Mit ihrer Theorie der Differentiellen Verstärkung fügten Ronald L. Akers und Robert L. Burgess dem sutherland'schen Ansatz eine weitere Sichtweise hinzu. Danach ist die positive oder negative Verstärkung situationsabhängig. So muss eine Haftstrafe nicht stigmatisierend sein, sie kann auch zu einer Statusverbesserung in einer subkulturellen Gruppe führen.[24]

Kontrolltheorien

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Kontrolltheorien (auch Bindungs- oder Halttheorien) erklären, weshalb Menschen sich konform und nicht abweichend bzw. delinquent verhalten. Sie wurden von drei Kriminalsoziologen (Albert J. Reiss 1951, Walter C. Reckless 1961, Travis Hirschi 1969) nacheinander entwickelt und ausgebaut. Reiss hob auf den inneren Halt ab, Reckless auf den äußeren Halt. Travis Hirschi schließlich entwarf eine Theorie der vier Bindungen, wonach die Angepasstheit vom Grad der Einbindung des Individuums in die Gesellschaft abhängig ist.[25]

Zusammen mit Michael R. Gottfredson erarbeitete Hirschi 1990 in dem gleichnamigen Buch eine weitere, deutlich umstrittenere Theorie namens A General Theory of Crime. Diese beruht auf der Vorstellung einer geringen Selbstkontrolle (low self-control). Sie ist die bekannteste der allgemeinen Kriminalitätstheorien.[26]

Die interaktionistische Wende (Etikettierungsansatz)

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Howard S. Becker (2012).

Mit dem Labeling Approach (Etikettierungsansatz) wandten sich Kriminalsoziologen von ätiologischen Erklärungen abweichenden Verhaltens ab und konzentrierten sich auf die gesellschaftliche Konstruktion von Kriminalität. Daraus folgte eine Konzentration auf Instanzenforschung zu Lasten der Untersuchung von Tat und Tätern.

Der Etikettierungsansatz wurde auf wissenschaftstheoretischer Basis des symbolischen Interaktionismus formuliert. Als Haupttheoretiker des Etikettierungsansatzes gelten Edwin M. Lemert und Howard S. Becker, von dem die viel zitierte Definition stammt: Abweichendes Verhalten ist das Verhalten, das Menschen so bezeichnen.[27] Zuerst war der Ansatz aber von Frank Tannenbaum im Jahre 1938 eingeführt worden („The criminal becomes bad because he is defined as bad“).[28] Diejenigen, die Regeln setzen oder Regeln durchsetzen, nennt Becker „moral entrepreneur“ („Moralische Unternehmer“), in der deutschen Kriminologie häufig als Moralunternehmer übersetzt.

In der deutschen Kriminalsoziologie wurde der Labeling-Ansatz in erster Linie und besonders von Fritz Sack im Rahmen der kritischen Kriminologie rezipiert und zugespitzt. Danach wurde jede Devianz Resultat von Zuschreibungen, was die so Etikettierten zu „Opfern“ machte. Fritz Sack selbst nannte dies „eine Position ohne ätiologischen und ‚Warum-Rest‘“.[29] Dies war in der ursprünglich symbolisch-interaktionistischen Version jedoch so nicht der Fall. Darum wurde die radikalisierte Auslegung des Ansatzes vom Soziologen und Kriminologen Michael Bock als Fehlrezeption bezeichnet: „Die amerikanischen Labeling-Theoretiker konnten gelassen und konstruktiv den bisherigen kriminalsoziologischen Wissensbestand integrieren. In der Variante von Sack jedoch erhielten die Etikettierungsansätze eine giftige Unduldsamkeit nicht nur gegenüber den anderen soziologischen Ansätzen, sondern gegenüber allem 'ätiologischen' Denken.“[30]

Die radikal-kritische Version des Etikettierungsansatzes hatte wissenschaftliche und kriminalpolitische Konjunktur von etwa 1970 bis 1990. Inzwischen hat sie einen Bedeutungsverlust erlitten. Die moderate Variante, dass nämlich Abweichung nicht bereits in der Welt vorhanden ist, sondern aus sozialen Prozessen hervorgeht, ist derweil Gemeingut geworden.

Neuere Theorien der Kriminalsoziologie

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Rational-Choice-Ansatz

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Die Theorie der rationalen Entscheidung (englisch rational choice theory) entstammt der Wirtschaftswissenschaft und setzt die Annahme eines Individuums voraus, aus jedem Handeln Nutzen zu ziehen. Zur Kriminalsoziologie trugen Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes Abschreckungstheorien bei, die insbesondere in die Kriminalpolitik hinein wirken. Jack P. Gibbs geht davon aus, dass kriminelle Handlungen unwahrscheinlicher werden, wenn angedrohte Sanktionen der kriminellen Handlung mit Sicherheit folgen, wenn sie der Tat mit geringer zeitlicher Verzögerung folgen, wenn sie so schwer sind, dass ihre Nachteile den Nutzen aus der kriminellen Handlung deutlich überwiegen.[31]

Reintegrative Shaming (Braithwaite)

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Der australische Kriminologe und Soziologe John Braithwaite legte 1989 mit seinem Konzept des reintegrative shaming eine allgemeine Theorie der Kriminalität vor, in der er traditionelle soziologische Erklärungsansätze (wie Subkulturtheorie, Lerntheorie, Halttheorie und Anomietheorie) miteinander und mit dem Etikettierungsansatz verknüpft und dies zudem in ein Verhältnis zu den empirischen Ergebnissen der Entwicklungskriminologie bringt.

Der zentrale Begriff in seiner Theorie ist das shaming (Beschämung). Dadurch wird im Individuum eine interne Kontrolle erzeugt, die ihm die Richtung für sozial akzeptiertes Verhalten vorgibt. Kommt es dennoch zur Delinquenz, sind zwei Shaming-Versionen durch die soziale Umwelt möglich: Das stigmatisierende Beschämen (Exklusion) und das reintegrierende Beschämen (Inklusion). Nur das reintegrative shaming garantiert eine geringe Rückfalldelinquenz. Dieses Verfahren setzt jedoch Gemeinschaften voraus, die inklusionsbereit und -fähig sind.

Soziologie der Kontrollgesellschaft (Foucault und Garland)

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Auf Basis der foucault'schen Gouvernementalität wird (zum Beispiel von Susanne Krasmann) aufgezeigt, dass soziale Probleme in der Postmoderne tendenziell weniger aus den persönlichen Fehlanpassungen individueller Täter abgeleitet werden als aus dem Stand und den Möglichkeiten der technischen Überwachung.

Ähnlich argumentiert der US-amerikanische Kriminologe und Soziologe David W. Garland. Hohe Kriminalitätsraten und damit eine höhere Kriminalitätsgefährdung würden hingenommen, man stelle sich durch weitgehende Sicherheitsmaßnahmen darauf ein. Diesen spätmodernen Umgang mit der Kriminalität nennt Garland Kriminologie des Alltags.

Literatur

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Allgemeine Werke zur Kriminalsoziologie

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Werke zu einzelnen kriminalsoziologischen Themen

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Siehe auch

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Einzelnachweise

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  1. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-933127-62-9, S. 5 ff.
  2. Nicole Bögelein, Daniel Wolter, Zur Lage der Kriminalsoziologie in Deutschland. Eine empirische Annäherung. In: Kriminologisches Journal. 47. Jg., Heft 2, 2015, S. 131–145, hier S. 132 f. (Manuskript online)
  3. Michael Bock: Kriminalsoziologie in Deutschland. Ein Resümee am Ende des Jahrhunderts. In: Horst Dreier (Hrsg.): Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Gedächtnissymposium für Edgar Michael Wenz. Mohr Siebeck, Tübingen 2000, S. 115–136, hier S. 117.
  4. Jürgen Oetting: Ferdinand Tönnies – ein vergessener Kriminalsoziologe. In: Tönnies-Forum. Jg. 27, Nr. 1, 2018, S. 45–51.
  5. Ferdinand Tönnies: Das Verbrechen als sociale Erscheinung. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Jg. 8, 1895, S. 329 ff; auch in: Ferdinand Tönnies: Soziologische Schriften 1889–1905. Hrsg. von Rolf Fechner. Profil-Verlag, München / Wien 2008, ISBN 978-3-89019-640-4, S. 119–134.
  6. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 14 f.
  7. Vgl. Gottfried Gabriel, Klaus Mainzer, Peter Janich: Kausalität, Kausalitätsprinzip, Kausalitätsgesetz. In: Jürgen Mittelstraß, Gereon Wolters (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 4 Bände. (Mannheim/)Stuttgart/Weimar (1984) 1995–1996; Nachdruck ebenda 2004; Band 2, S. 372–376.
  8. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 15 f.
  9. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 16 f.
  10. Quetelet 1833, zitiert nach Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 17.
  11. René König: Theorie und Praxis in der Kriminalsoziologie. In: Ders: Materialien zur Kriminalsoziologie. Herausgegeben von Aldo Legnaro und Fritz Sack (= René König Schriften. Band 13). Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, ISBN 3-8100-3306-5, S. 31–37, hier S. 32; Erstabdruck in: Fritz Sack, René König (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main 1968, S. IX–XV.
  12. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 18.
  13. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 18 f.
  14. vgl. einerseits Richard Wetzell: Inventing the Criminal, A History of German Criminology 1880–1945. Chapel Hill / London 2000, S. 116: „[Exner was] Germany’s preeminent criminal sociologist“ sowie Thorsten Kruwinnus, Das enge und das weite Verständnis der Kriminalsoziologie bei Franz Exner. Eine vergleichend werkimmanente Vorstudie, Berlin 2009, S. 28 ff.
  15. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 20 ff.
  16. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 27 ff.
  17. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 33.
  18. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 29 f.
  19. Christian Wickert: Institutionelle Anomietheorie, SozTheo.
  20. Roland Chr. Hoffmann-Plesch: Deutsche IS-Dschihadisten. Kriminalätiologische und kriminalpräventive Analyse des Radikalisierungsprozesses. Teil 3: Kriminalsoziologische Aspekte. In: Kriminalistik. Band 69, Nr. 2, 2015, S. 74–80.
  21. Albert K. Cohen: Kriminelle Jugend. Zur Soziologie jugendlichen Bandenwesens. Reinbek 1961, S. 97.
  22. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 38 f.
  23. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 43 f.
  24. Michael Bock: Kriminologie. 5. Auflage, Vahlen, München, 2019, ISBN 978-3-8006-5916-6, S. 65 ff.
  25. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie., Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 44 ff.
  26. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie., Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 61 ff.
  27. Howard S. Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 8.
  28. Frank Tannenbaum, Crime and the Community, London: Columbia University Press, 1938, S. 17.
  29. Fritz Sack: Einführende Anmerkungen zur kritischen Kriminologie. Überarbeiteter Text eines Vortrages zum Auftakt der Vorlesungsreihe „Kritische Kriminologie und Soziale Arbeit“, 2000, Online, dort Abschnitt 3 Der Sprung in die kritische Kriminologie: einige biographische Notizen, S. 8 ff., hier S. 12.
  30. Michael Bock: Kriminologie. 4. Auflage. München 2013, S. 71.
  31. Stefanie Eifler: Kriminalsoziologie. Transcript-Verlag, Bielefeld 2002, S. 52 f.