Verbot des überspitzten Formalismus

Grundrecht in der Schweiz

Das Verbot des überspitzten Formalismus (franz: formalisme excessif) ist ein Grundrecht in der Schweiz. Es handelt sich um einen Teilgehalt der allgemeinen Verfahrensgarantien (Art. 29 Abs. 1 BV), d. h. jenen Rechten, die jeder Person in Verfahren vor Gericht und Verwaltungsbehörden zustehen. Überspitzter Formalismus liegt vor, wenn Verfahrensnormen so streng angewandt werden, dass sie durch kein schutzwürdiges Interesse mehr gerechtfertigt sind, denn Verfahrensrecht darf nie Selbstzweck werden. Das Bundesgericht erachtet überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung.

Gewisse Formstrenge ist für das Funktionieren des Staates unabdingbar. Verfahrensrecht trägt dazu bei, Verfahren zu ordnen, verfassungsmässig auszugestalten und eine rechtsgleiche Behandlung zu gewährleisten, indem für alle grundsätzlich immer dieselben Regeln angewandt werden. Indessen ist Verfahrensrecht nie Selbstzweck, sondern dient der Durchsetzung des materiellen Rechts.[1]

Das Verbot des überspitzten Formalismus ist Ausfluss des Rechts auf gleiche und gerechte Behandlung in Gerichts- und Verwaltungsverfahren (Art. 29 Abs. 1 BV). Übermässige Formstrenge wird weniger aufgrund der Behandlung als des Resultats als ungerecht erachtet. Eine Beschwerde, die die formellen und materiellen Anforderungen erfüllt, aufgrund einer sachfremden Bagatelle abzulehnen, wäre nicht hinnehmbar.[1]

Ob formale Vorschriften übermässig streng angewandt werden, wird nur in Rechtsanwendungsverfahren – das heisst in Verfahren vor Verwaltungen und Gerichten – geprüft. Die Rechtsetzung ist nicht an Art. 29 Abs. 1 BV gebunden und kann überspitzte formalistische Rechtsnormen erlassen. Die Frage ist, ob ein Rechtsanwender eine Norm des Verfahrensrechts zu streng – mithin überspitztauslegt.[2]

Überspitzter Formalismus liegt etwa vor, wenn eine Verfahrenspartei vergisst, unter eine korrekt eingebrachte Eingabe die Unterschrift zu setzen, und die Behörde deswegen die Eingabe ablehnt.[3] In einem solchen Fall kann es geboten sein, dass das Gericht, sogar wenn die Frist abgelaufen ist, eine kurze, darüber hinausgehende Nachfrist zur Verbesserung des Formfehlers (die fehlende Unterschrift) gewährt.[4] Ein Anspruch auf Nachfristensetzung besteht indessen nicht, wenn die Eingabe nicht ausreichend begründet ist und die Partei eine Begründung nachreichen möchte.[5] Die Behörde ist denn auch verpflichtet, den Verfasser einer Rechtsmittelschrift auf das Fehlen der Unterschrift aufmerksam zu machen[6] und bei Verspätungen einer Partei nicht unnötig streng zu sein. Sofern die Verspätung nicht dazu führt, dass die Arbeit der Justiz beeinträchtigt wird, muss das Gericht Nachsicht walten lassen.[7] In einem weiteren Fall missbilligte das Bundesgericht die Anwendung von Art. 143 Abs. 1 ZPO durch das Obergericht Zürich. Dieses trat auf eine Beschwerde nicht ein, weil bei einem korrekt frankierten und adressierten Brief, bei dem sich die Briefmarke abgelöst hatte und der von der Post deswegen zurückgesendet wurde und somit nicht per Post ankam, eine persönliche Übergabe nicht akzeptiert wurde.[8]

Ein analoges Grundrecht entwickelte der liechtensteinische Staatsgerichtshof.[9]

Einzelnachweise

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  1. a b Gerold Steinmann/Benjamin Schindler/Damian Wyss, SGK-BV, 4. Auflage, 2023, Art. 29, Rn. 39.
  2. Gerold Steinmann/Benjamin Schindler/Damian Wyss, SGK-BV, 4. Auflage, 2023, Art. 29, Rn. 40.
  3. BGE 149 IV 9 E. 7.2 S. 33; BGE 142 I 10 E. 2.4.3, S. 12; BGE 111 Ia 169 E. 4c S. 174; BGE 114 Ia 20 E. 2c S. 25.
  4. BGE 142 IV 299 E. 1.3.4 S. 305; BGE 142 I 10 E. 2.4.3.
  5. BGE 134 II 244 E. 2.4.2 S. 247.
  6. BGE 120 V 413 E. 5a S. 417.
  7. BGE 145 I 201 E. 4.2.2 S. 206. In diesem Fall erschien der Rechtsbeistand mit 17 Minuten Verspätung zur Hauptverhandlung über den Strafbefehl seines Mandanten. Aufgrund der Verspätung wandte das Gericht Art. 356 Abs. 4 StPO an, was zur schwerwiegenden Folge gehabt hätte, dass der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil geworden wäre.
  8. 5A_866/2022 Urteil vom 29. August 2023 E. 2.4.5.
  9. Peter Bussjäger: Eigenständige Verfassungsdogmatik am Alpenrhein? Der Einfluss österreichischer und schweizerischer Staatsrechtslehre am Beispiel des Staatsgerichtshofes. In: Sebastian Wolf (Hrsg.): State Size Matters. Politik und Recht im Kontext von Kleinstaatlichkeit und Monarchie. 2015, ISBN 978-3-658-07724-2, S. 22.