Neuordnung der preußischen Westgebiete

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Nachdem die französischen Truppen nach der Völkerschlacht bei Leipzig im Herbst 1813 auch Westfalen verlassen hatten, wurde es wieder der preußischen Verwaltung unterstellt. Ludwig von Vincke erhielt die Leitung des Zivilgouvernements zwischen Weser und Rhein und hatte sich in dieser Stellung zunächst mit den Problemen der durchziehenden Truppen und der Konskription auseinanderzusetzen. Als Zivilgouverneur war er für das Finanz-, Justiz- und Polizeiwesen zuständig.

Oberpräsident von Westfalen

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Das neugeschaffene Amt im Gefüge der Staatsverwaltung

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Im Rahmen einer gesamtpreußischen Reorganisation der Verwaltung wurden das Königreich im April 1815 in Provinzen untergliedert, an deren Spitze als oberster Beamter jeweils ein Oberpräsident eingesetzt wurde. Jede Provinz umfasste mehrere Regierungsbezirke mit einem Regierungspräsidenten an ihrer Spitze. Vincke wurde der erste Oberpräsident in der Provinz Westfalen und behielt dieses Amt bis zu seinem Tode im Jahr 1844, womit er der Oberpräsident mit der längsten Amtszeit in Westfalen wurde. Die Provinz Westfalen umfasste die drei Regierungsbezirke Münster, Arnsberg und Minden, wobei der Regierungsbezirk Münster in Personalunion durch Vincke (ausgenommen die Jahre 1817 bis 1825) als Regierungspräsident geleitet wurde. Zusätzlich wurde er 1817 als Mitglied in den neugeschaffenen Staatsrat berufen, dem er bis zu seinem Tode angehörte.

Die Doppelbelastung als Oberpräsident und Regierungspräsident bewältigte Vincke dadurch, dass er den Vizepräsidenten Schlechtendahl die laufenden Geschäfte in Münster führen ließ.

Der Aufgabenbereich des neugeschaffenen Oberpräsidentenamtes im Gefüge des Staatsapparats war nur vage umschrieben und wurde war Gegenstand strittiger Diskussionen, an denen sich auch Vincke eifrig beteiligte. Die Oberpräsidenten hatten die Aufgabe, die Arbeit der Regierungspräsidenten zu koordinieren, die Umsetzung der zentralstaatlichen Weisungen zu kontrollieren und über den Zustand der Provinz Bericht zu erstatten. Sie waren gegenüber den Regierungspräsidenten und anderen Behörden nicht weisungsbefugt und hatten nur wenig Entscheidungskompetenz. Vincke selbst verstand sich auch als oberster Vertreter der Provinz, der sich bei der Zentralregierung für die Belange Westfalens einsetzte. Er setzte sich vergeblich dafür ein, dass das Amt zu einem Provinzialministerium aufgewertet würde.[1]

Unter den Oberpräsidenten bildete sich eine liberale Gruppe heraus, zu der neben Vincke seine rheinischen Kollegen Solms-Laubach und Ingersleben sowie Schön in Ostpreußen gehörten. Sie wirkten durch gemeinsame Memoranden und trafen sich auch persönlich, bis schließlich Staatskanzler Hardenberg diese Zusammenkünfte untersagte, sofern sie nicht ausdrücklich von ihm genehmigt worden waren.[2]

Das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern wurde durch die fehlende Einlösung des königlichen Versprechens von 1815 belastet, dem Staat eine Verfassung zu geben. Folglich blieb auch die Einrichtung eines gesamtstaatlichen Parlaments auf der Strecke, und es wurden lediglich Provinziallandtage einberufen mit nur beratender und keiner beschließenden Kompetenz, deren Mitglieder vor allem Adlige und Standesherren sowie die bedeutendsten Steuerzahler waren. Als Anhänger der Selbstverwaltungsidee setzte sich Vincke vergeblich für eine Vermehrung der Befugnisse ein.

Vincke trieb als Direktor der rheinisch-westfälischen Katasterkommission die Einführung eines Katasters als Grundlage für ein gerechtes Steuersystem voran, stieß dabei aber auf starken Widerstand der Landstände, vor allem im Paderborner Landadel. Auch der Freiherr vom Stein exponierte sich in dieser Frage als Gegner Vinckes.

Der Adel

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Die Integration des alten, 1803 mediatisierten Adels und der Standesherren erwies sich als besonders konfliktträchtig, ihre Vorrechte, deren Weiterbestehen von der Zentralregierung bestätigt worden war, verstießen gegen Vinckes Vorstellung einer einheitlich organisierten Verwaltung mit einer Rechtsgleichheit der Bewohner. Diese ständischen Sonderrechte im Finanz-, Justiz-, Polizei- und Militärwesen waren auf 40 % der Fläche Westfalens mit einem Fünftel der Bevölkerung wirksam.

Obwohl Vincke die Bevorrechtigung des Adels ständig kritisierte, nutzte er dennoch mehrfach seinen eigenen familiären Hintergrund für seine Angelegenheiten, nicht nur bei seiner Installation zum Landrat, sondern – wenn auch widerwillig – bei der Unterbringung zweier seiner Töchter in Damenstiften und der Verheiratung einer weiteren Tochter mit einem Grafen aus dem Haus Lippe, wozu jeweils der Nachweis adliger Herkunft erforderlich war.[3]

Wirtschaft und Verkehr

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Als Oberpräsident beobachtete und förderte er die Entwicklung der Wirtschaft in seiner Provinz, hatte aber außer der Abfassung von Denkschriften nur wenig Möglichkeiten effektiv einzugreifen. Besonders am Herzen lagen ihm die kleinen nichtadligen Bauern. Vincke setzte sich für den Erhalt der Betrieb und gegen deren Teilung und Verkauf ein.

Seiner Ansicht nach fand der Zustand der Landwirtschaft bei der Zentralregierung zu wenig Beachtung im Vergleich zur Industrie. Trotz seiner liberalen Grundeinstellung kritisierte er den Handelsliberalismus Preußens mit geringen Zöllen und wünschte einen größeren Schutz der produzierenden Industrie.

Größere Kompetenzen hatte der Oberpräsident beim Ausbau der Verkehrswege, sofern es sich um überregionale Projekte handelte, die die Grenzen der Regierungsbezirke überschritten. Den größten Nachholbedarf im Straßenbau stellte er für den südlichen Teil der Provinz, das ehemals kürkölnische Sauerland fest.[4] Weiterhin setzte er sich für die Schiffbarmachung von Ruhr und Lippe ein sowie die Planungen für die Köln-Mindener und die Bergisch-Märkische Eisenbahn.

Schulwesen

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Als Oberpräsident unterstand ihm direkt das Provinzialschulkollegium, das die Gymnasien zu beaufsichtigen hatte. Vincke selbst richtete jedoch seine Aufmerksamkeit auf das Elementarschulwesen, das dem größten Teil der Bevölkerung vorbehalten blieb und sich in einem schlechten Zustand befand. Er forderte die Errichtung von Gewerbeschulen, was aber erst nach seinem Tode umgesetzt wurde, und unterstützte die Blindenschule Pauline von Mallinckrodts in Paderborn sowie die Schule für Taubstumme in Soest.[5]

Religion

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Ludwig von Vincke war ein überzeugter und frommer Lutheraner, den die katholische Liturgie befremdete. Andererseits stand er der protestantischen Erweckungsbewegung, die in Westfalen einen Schwerpunkt hatte, skeptisch gegenüber. Ab der Mitter der 1820er Jahre näherte sich unter dem Einfluss eines Werkes von August Tholuck dem Pietismus an.[6] In den innerprotestantischen Querelen, die durch die Gründung der Altpreußischen Union verursacht wurde, nahm er eine vermittelnde Position ein. Vincke verzögerte die Umsetzung einer ministeriellen Verfügung zur Einsetzung einer neuen Agende in Westfalen, die dort auf heftiger Widerstand stieß; er hielt Unruhen bei der Einführung der Agende nicht für ausgeschlossen und bat um Anweisungen für den Fall, dass Ordnungskräfte eingesetzt werden müssten, woraufhin der Druck der Zentralbehörde nachließ. Einige Jahre später wurde eine Kommission eingesetzt, die einen Kompromiss erarbeitete, so dass die Agende mit zehnjähriger Verspätung im Jahre 1835 eingesetzt werden konnte. Das Recht des Königs, diese Agende einzusetzen, stellte er jedoch niemals in Frage.[7]

Die Integration der Landesteile mit unterschiedlicher religiöser Konfession in das Königreich Preußen, das von den Katholiken als protestantisch dominiert wahrgenommen wurde, blieb ein dauerhaftes Problem, nicht zuletzt dadurch, dass als leitende Beamte auch in den katholischen Gebieten vorzugsweise Protestanten eingesetzt wurden. Die innerstaatlichen Versetzungen von Beamten, aber auch die langsam zunehmende Mobilität der Bürger führten zu einer größeren Zahl sogenannter Mischehen, die Streitpunkte mit den Kirchen verursachten, besonders über die Frage der Konfessionsbestimmung der Kinder. Dieses gesamtstaatliche Problem erreichte auch Westfalen, wo Vincke mit einer Denkschrift zu schlichten versuchte. Es gelang ihm, ein konstruktives Verhältnis zu einigen einflussreichen Katholiken aufzubauen, z.B. den Generalvikar und späteren Bischof Ferdinand August von Spiegel, während der Generalvikar Clemens August Droste zu Vischering durchweg in starker Opposition zu ihm stand.[8]

  1. Heide Barmeyer: Vincke und das Verhältnis von Provinz und Gesamtstaat in der Verfassungsgestaltung, 1815–1823. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 407–424.
  2. Bernd Sösemann: Die „liberale Fraktion“ der Oberpräsidenten. Vinckes Position in der Diskussion um Verwaltungs- und Verfassungsreformen, 1815–1826. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 115–135.
  3. Horst Conrad: Vincke und der Adel. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 241–264.
  4. Wilfried Reininghaus: Vincke und der Starßenbau im südlichen Westfalen. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 349–364.
  5. Axel Koppetsch: „Den ganzen Morgen dem Studium der Schulacten gewidmet und darauf Entwürfe nützlicher Verbesserungen gebaut“. ZU einigen Aspekten der Tätigkeit Vinckes in der Schulverwaltung. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 437–453.
  6. Hertha Sagebiel: Praktischer Protestantismus. Evangelische Grundlagen in Vinckes Lebens- und Berufsauffassung. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 407–424.
  7. Jürgen Kampmann: Zwischen König und Kirchenvolk. Vinckes Rolle bei der Einführung einer neuen Ordnung des evangelischen Gottesdienstes in Westfalen durch die Berliner Agende. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 425–436.
  8. Wilhelm Kohl: Vincke und Clemens August Droste zu Vischering - Katholische Kirche und Preußischer Staat. In: Behr / Kloosterhuis: Ludwig Freiherr Vincke. Münster 1994, S. 389–406.