Der Einsiedler Serapion ist eine Erzählung aus dem ersten Band der Erzählungssammlung Die Serapionsbrüder (Februar 1819) von E.T.A. Hoffmann. Sie ist dort in das erste Rahmengespräch integriert und trägt keinen eigenen Titel; Hoffmann hatte sie jedoch schon im Januar 1819 in der Zeitschrift Der Freimüthige für Deutschland. Zeitblatt der Belehrung und Aufheiterung unter dem Titel Bruchstück aus den Serapionsbrüdern. Der Einsiedler Serapion veröffentlicht. Von diesem Erstdruck leiten moderne Herausgeber den heute üblichen Titel ab.

Die vier Freunde Theodor, Ottmar, Lothar und Cyprian, die die Rahmengespräche im ersten Band der Serapionsbrüder führen und denen die verschiedenen Erzählungen in den Mund gelegt sind, leiten aus ihr das serapiontische Prinzip ab, das das Leitprinzip literarischen Schreibens sei. Nach dem Einsiedler Serapion nennen sie sich „Serapionsbrüder“, ihre Abende aber die „Serapionsabende“.

Die Erzählung

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Handlung

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Die Erzählung ist Cyprian in den Mund gelegt. Er berichtet die Begegnung mit dem Einsiedler Serapion als eine mehrere Jahre zurückliegende Begebenheit aus seinen eigenen Leben.

Cyprian kommt als Fremder in die Stadt B***. Auf einem Spaziergang verirrt er sich und begegnet einem als Mönch gekleideten Mann, der ihn, als er ihn nach dem Rückweg nach B*** fragt, unmutig zurückweist:

„Du handelst sehr leichtsinnig und unbesonnen, daß du mich in dem Gespräch, das ich mit den würdigen Männern, die um mich versammelt, führe, mit einer einfältigen Frage unterbrichst! – [...] du siehst, daß ich jetzt keine Zeit habe, mit dir zu reden. Mein Freund Ambrosius von Kamaldoli kehrt nach Alexandrien zurück, ziehe mit ihm.[1]

Endlich nach B*** zurückgekehrt, erfährt Cyprian, dass der vermeintliche Mönch bis vor einigen Jahren als Adliger und intellektuell außerordentlich Begabter eine aussichtsreiche Diplomatenkarriere verfolgte, dann aber unvermutet verschwand und, nachdem er wieder aufgetaucht war, als Wahnsinniger in der Irrenanstalt von B*** interniert wurde. Dort brach er aus, möglicherweise mit heimlicher Mithilfe des Arztes, der nun dafür sorgt, dass er – als unheilbar, aber harmlos angesehen – unbehelligt im Wald nahe B*** leben kann. Er hält sich für den heiligen Serapion, der einstmals vom Kaiser Decius als Märtyrer hingerichtet wurde.

Cyprian nimmt sich vor, den Wahnsinnigen, an dem die Kunst aller Ärzte scheiterte, zu heilen. Er besucht Serapion, versucht ihm mit vernünftigen Argumenten seinen Wahnsinn zu erklären, und fordert ihn auf, zu seiner Familie zurückzukehren. Serapion reagiert souverän. „Sie sind offenbar der ohnmächtigste von allen Widersachern die mir erschienen und ich werde Sie mit Ihren eignen Waffen schlagen, das heißt mit den Waffen der Vernunft.“[2] In einer sich steigernden Reihe scharfsinniger Argumente weist Serapion Cyprians Heilungsversuch zurück.

„Wenn ich nun behauptete, daß eben Sie von einem heillosen Wahnsinn befangen die Thebaische Wüste für ein Wäldchen und das ferne, ferne Alexandrien für die süddeutsche Stadt B*** hielten, was würden Sie sagen können? Der alte Streit würde nie enden [...][3]

Den Umschlag bewirkt Serapions Hinweis, dass der „Schleier“ des Wahnsinns dazu dienen könne, eine Erinnerung an eine furchtbare Vergangenheit – unter der Serapion freilich das Martyrium versteht, an das er sich an anderen Stellen genau zu erinnern behauptet – zu verbergen und es daher eine „grausame heillose Teufelei“ sein könne, „an diesem Schleier zu zupfen“[4]. Cyprian gibt beschämt auf; Serapions Konsequenz ebenso wie die Ahnung, dass in Serapions Wahnsinn sein früheres Leben „wie ein höherer unverletzbarer Geist hervorschimmerte“[5], lassen ihm nun den Heilungsversuch an sich verwerflich erscheinen. Aber Serapion ist noch nicht fertig; indem er von seiner stringenten philosphischen Argumentation unvermittelt in der Fantastik seiner Wahngebilde überwechselt – erst gestern hätten Ariost, Dante und Petrarca mit ihm über Poesie diskutiert, für den Abend erwarte er „den wackern Kirchenlehrer Evagrius“[6] –, holt er zu seinem komplexesten und für die spätere Diskussion der Serapionsbrüder entscheidenden Argument aus.

„Manchmal steige ich auf die Spitze jenes Berges, von der man bei heitrem Wetter ganz deutlich die Türme von Alexandrien erblickt, und vor meinen Augen begeben sich die wunderbarsten Ereignisse und Taten. Viele haben das auch unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir nur ein, das vor mir im äußern Leben wirklich sich ereignen zu sehen, was sich nur als Geburt meines Geistes, meiner Phantasie gestalte. Ich halte dies nun für eine der spitzfindigsten Albernheiten, die es geben kann. Ist es nicht der Geist allein, der das, was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfassen vermag? – Ja, was hört, was sieht, was fühlt in uns? – vielleicht die toten Maschinen, die wir Auge – Ohr – Hand etc. nennen, und nicht der Geist? – Gestaltet sich nun etwa der Geist seine in Raum und Zeit bedingte Welt im Innern auf eigne Hand und überläßt jene Funktionen einem andern, uns inwohnenden Prinzip? – Wie ungereimt! Ist es nun also der Geist allein, der die Begebenheit vor uns erfaßt, so hat sich das auch wirklich begeben, was er dafür anerkennt.[7]

Während seines restlichen Aufenthalts in B*** besucht Cyprian Serapion häufig. Drei Jahre später kehrt er zurück; er findet Serapion, der soeben in seiner Hütte gestorben ist.

Hintergründe

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„Nicht weniger als acht“ Serapions habe die Geschichte der Heiligen und Märtyrer aufzuweisen, behauptet Cyprian[8]. Das Vollständige Heiligen-Lexikon (1858-1882) verzeichnet 29, wobei von einigen allerdings kaum mehr als der Name bekannt ist. Als Nummer 26 wird der Märtyrer Serapion geführt, der unter dem römischen Kaiser Decius († 251) das Martyrium erlitt und vielleicht gleichzeitig die Nummer 24 ist:

24S. Serapion (12. Sept. al. 14. Nov.), ein Martyrer zu Alexandria. […]
26S. Serapion (14. Nov.), ein Martyrer, welcher um d. J. 249 unter Decius gelitten hat, ist vielleicht derselbe wie S. Serapion24. Er wurde zuerst schrecklich gefoltert und dann von seinem Hausdache herabgestürzt. Bildnisse zeigen seinen Martertod.[9]

Der Tag dieses Serapion, der 14. November, spielt im folgenden Gespräch der Serapionsbrüder eine wichtige Rolle. Serapion wird daher manchmal mit Serapion dem Mercedarier identifiziert, dem derselbe Tag gewidmet ist. Serapion der Mercedarier lebte allerdings fast ein Jahrtausend nach der Regierungszeit des Kaisers Decius.

 
Nervenklinik Sankt Getreu: Hier vermutlich war der Einsiedler Serapion interniert.

Einhellig identifizieren die Kommentatoren die Stadt B*** mit Bamberg[10]. Hoffmann lebte dort vom September 1808 bis zum April 1813 zunächst als Theaterkapellmeister, dann als freier Komponist und Musiklehrer. In Bamberg verkehrte er mit dem Leiter der Nervenheilanstalt Sankt Getreu, Dr. Adalbert Friedrich Marcus. In dessen Anstalt ist Serapion zunächst interniert, und Marcus ist es, der Serapion für ungefährlich erklärt und bei den zuständigen Behörden dafür sorgt, dass er unbehelligt im Wald nahe B*** leben kann.

„Sei es, daß jener Arzt, seiner Theorie getreu, dem Wahnsinnigen selbst Gelegenheit gab zu entwischen, oder daß dieser selbst die Mittel dazu fand, genug, er entfloh […][11]

Die hier erwähnte „Theorie“ scheint bislang allerdings nicht nachweisbar zu sein.

Da die Erstausgabe der Serapionsbrüder im Internet noch nicht verfügbar zu sein scheint und im Original schwer zugänglich ist, folgen die Zitate der Winkler-Ausgabe (vgl. unter Literatur). Die hinzugefügten Seitenzahlen der Aufbau-Ausgabe sind nach dem Digitalisat bei zeno.org gegeben; in dieser ist die Zeichensetzung allerdings stark modernisiert.

  1. Winkler S. 18; Aufbau S. 23
  2. Winkler S. 23; Aufbau S. 29
  3. Winkler S. 24; Aufbau S. 30 f.
  4. Winkler S. 24; Aufbau S. 31
  5. Winkler S. 24; Aufbau S. 31
  6. Winkler S. 25 f.; Aufbau S. 32 f. Mit „Evagrius“ könnten Evagrius Scholasticus oder Evagrius Ponticus gemeint sein.
  7. Winkler S. 26; Aufbau S. 33
  8. Winkler S. 20; Aufbau S. 26
  9. Vollständiges Heiligen-Lexikon […] hg. von J.E. Stadler, F. J. Heim und J. N. Ginal Bd. 5 (Q–Z, Augsburg 1882) S. 254
  10. Zu den biografischen Hintergründen vgl. den Kommentar bei Winkler S.1036-1038
  11. Winkler S. 19; Aufbau S. 25