Justizvollzugsanstalt Göttingen

Baudenkmal in Göttingen

Die Justizvollzugsanstalt Göttingen ist ein ehemaliges Gefängnis, das in den 1830er Jahren in der Innenstadt von Göttingen errichtet wurde. Lange Zeit diente es den Göttinger Gerichten als Gefängnis. 1972 wurde es in Justizvollzugsanstalt umbenannt und bis 2007 als solche genutzt. Seither steht der denkmalgeschützte Gefängnisbau leer. 2024 wurde er von der Stadt Göttingen zum Kauf angeboten.

Ehemalige Justizvollzugsanstalt Göttingen, 2011

Lage und Beschreibung

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Mahnmal auf dem Platz der Synagoge

Das Gebäude mit der Adresse Obere-Masch-Straße 9 steht am nordwestlichen Rand der Altstadt im erst spät bebauten Maschviertel an der Ecke von Obere-Masch-Straße und Reitstallstraße, wo es zunächst als freistehender Solitär errichtet wurde. Der Bau lehnt sich heute an die Rückseite des erst rund 20 Jahre später entstandenen Obergerichts Göttingen (Waageplatz 7) an. Ab 1872 war die Alte Synagoge ein benachbartes Bauwerk des Gefängnisses. Nach ihrer Zerstörung beim Novemberpogrom 1938 wurde auf dem dreieckigen Platz neben der Alten Synagoge 1973 das heute westlich vor dem Gefängnisbau stehende Mahnmal Synagoge eingeweiht.[1]

Das Gefängnis steht auf einem rechteckigen Grundstück von rund 1000 m² Fläche[2] und ist ein dreigeschossiger Massivbau mit Putzfassaden auf H-förmigem Grundriss. Die Gebäudenutzfläche beläuft sich auf fast 1300 m².[2] Vorne westlich, rechts südlich und hinten östlich befinden sich drei Höfe, wobei die beiden Höfe an den Straßenseiten mit hohen Mauern Spazierhöfe für Gefangene waren.[3]

Für die Fassaden als hauptsächliches Gliederungsmotiv markant sind die an Formen der sogenannten Revolutionsarchitektur angelehnten flachen Rundbogennischen, welche die giebelständigen Stirnseiten der Seitenflügel in voller Höhe durchlaufen. Gestalterisch ähnlich zeigt sich der Mittelrisalit der Neuen Kaserne (heute Stadthaus) am Göttinger Hiroshimaplatz, die vor dem Geismartor ebenfalls von Praël und Rohns 1834/1835 errichtet wurde.[4] Eine historische Fotografie des Gefängnisses zeigt, dass die Fassaden ehemals mit einer eleganten Putzquaderung gestaltet waren.[5] Im Innern spiegeln die Grundrisse die in der ursprünglichen Gebäudebezeichnung genannte Doppelfunktion wider, die in der Straßenfassade nach Westen zwei Haupteingänge und unterschiedliche Raumstrukturen verursachte. Die Gefängniszellen waren ursprünglich wohl vor allem im Mittel- und im Südtrakt untergebracht. Die Sicherungsfunktion des Gebäudes zeigt sich zeugnishaft in dicken Mauern sowie vergitterten und teilweise hochliegenden Fenstern.[3]

Das Gebäude zählt laut Niedersächsischem Landesamt für Denkmalpflege zu den architektonisch herausragenden klassizistischen Baudenkmalen in Südniedersachsen[3] und steht seit 1982 unter Denkmalschutz.[6]

Geschichte

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Mittig der rote Gebäudekomplex von Gefängnis und Obergericht auf einem Stadtplan von 1864

Das Gefängnis wurde als Amt- und Criminalgefangenhaus nach Entwürfen des Architekten und Baumeisters Otto Praël in den Jahren 1832 bis 1835 im Stil des Klassizismus erbaut. Ausführender Bauunternehmer war Christian Friedrich Andreas Rohns, dem früher irrtümlich auch der Entwurf zugeschrieben wurde.[7] Die Baugeschichte ist bisher im Einzelnen nicht näher erforscht.

Das Gefängnis diente den Göttinger Gerichten, wie Amtsgericht Göttingen und Obergericht Göttingen bzw. Landgericht Göttingen, zur Unterbringung von Gefangenen bzw. Verurteilten und wurde deswegen als Gerichtsgefängnis bezeichnet. 1856 waren im Gefängnis (über das Jahr verteilt) insgesamt 1922 Personen inhaftiert, darunter 233 Untersuchungshäftlinge.[8] Während des Zweiten Weltkriegs belief sich die gleichzeitige Belegung um 1942 auf 40 bis 100 Personen. Innerhalb eines Jahres (April 1943 bis April 1944) saßen in dem Gefängnis 537 Häftlinge ein, darunter 65 Zwangsarbeiter und 136 Zwangsarbeiterinnen. Sie wurden auch während ihrer Haftzeit zur Zwangsarbeit eingesetzt, wie zum Bau militärischer Anlagen. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs erfolgten die Einweisungen in das Gerichtsgefängnis in der Regel durch die Gestapo.[9]

1972 wurde das Gerichtsgefängnis in Justizvollzugsanstalt Göttingen umbenannt.[10] Es wurde vom Land Niedersachsen zur Unterbringung von Untersuchungshäftlingen genutzt. Die Unterbringungsbedingungen galten wegen der kleinen Zellen und der regelmäßigen Überfüllung der Anstalt als unzumutbar. Anfang der 1980er Jahre protestierten Häftlinge mit Hungerstreiks gegen die menschenunwürdige Unterbringung. Ab den 1990er Jahren kam es mehrfach zu Gefängnisausbrüchen und Ausbruchsversuchen. Dabei wurden unter anderem Gitterstäbe der Zellenfenster durchsägt und steinerne Zellenwände durchbrochen.[11]

Durch den Bau der südlich außerhalb von Göttingen gelegenen JVA Rosdorf wurde das Gefängnis ab 2007 bedeutungslos und stand seither leer. Im Jahr 2008 erwarb die Stadt das Bauwerk vom Land Niedersachsen. Danach gab es mehrere Ideen einer Nachnutzung, wie Museum, Studentenwohnheim, Hostel und Coworking-Space, die nicht verwirklicht wurden.[12][13] Seit etwa 2019 besteht eine Anwohnerinitiative, die eine Nutzung des Gefängnisbaus als soziales Zentrum fordert.[14] Im Jahr 2022 besetzten Aktivisten einer Gruppe „Autonome Stadtverwaltung Göttingen“ das Gebäude bei einem Tag der offenen Tür,[15] um eine Umwandlung in ein soziales Zentrum zu erreichen.[16] Die Polizei beendete die friedlich verlaufende Besetzung nach wenigen Tagen.[17]

Nach 16 Jahren des Leerstands und zeitweiser Nutzung als Lager bot die Stadt Göttingen den Gebäudekomplex 2024 für ein Mindestgebot von 140.000 Euro zum Kauf an. Voraussetzung für den Erwerb war die Vorlage eines Nutzungskonzepts, das zum innerstädtischen Umfeld passt. Ebenso muss der Denkmalschutz beachtet werden. Geschützt sind insbesondere der historische Grundriss und die Gefängniszellen in einem Trakt. Die Vergitterung der Fenster sollte erhalten bleiben, weil sie ein hervorstechendes Merkmal und Zeugnis der früheren Gebäudenutzung sind.[18] Die zu erwartenden Sanierungsarbeiten werden mit einem siebenstelligen Betrag beziffert. Nach Ablauf der Bewerbungsfrist am 1. Juni 2024 soll es sechs Bewerber zur Übernahme und Umnutzung des früheren Gefängnisbaus geben,[19] darunter der gemeinnützige Verein Soziales Zentrum Göttingen e. V.[20]

Siehe auch

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Literatur

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Commons: JVA Göttingen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. Mahnmal Synagoge. In: denkmale.goettingen.de. Stadt Göttingen, Fachdienst Kultur, abgerufen am 7. Juni 2024.
  2. a b Exposé. Angebotsunterlagen Ehemalige JVA Göttingen Obere-Masch-Straße 9, 37073 Göttingen. In: goettingen.de. Stadt Göttingen, 2. Januar 2024, abgerufen am 6. Juni 2024.
  3. a b c Amt- und Criminal Gefangenhaus zu Göttingen. In: Denkmalatlas Niedersachsen. Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege, abgerufen am 12. Juni 2024.
  4. Christian Freigang: Architektur und Städtebau von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1866. In: Ernst Böhme, Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Göttingen, Geschichte einer Universitätsstadt. Band 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-36197-1, S. 765–812 (Digitalisat auf archiv.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 6. Juni 2024), hier S. 808.
  5. Hans-Georg Schmeling: Alt Göttingen. Historische Photographien 1870–1930. Wartberg Verlag, Gudensberg-Gleichen 1989, ISBN 3-925277-35-8, S. 46 (Foto von 1909).
  6. Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland, Baudenkmale in Niedersachsen, Bd. 5.1 Stadt Göttingen. Bearbeitet von Ilse Rüttgerodt-Riechmann. Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig / Wiesbaden 1982, ISBN 3-528-06203-7, S. 54 f. (Digitalisat auf digi.ub.uni-heidelberg.de, abgerufen am 6. Juni 2024)
  7. Klarstellung durch Jens Reiche: Christian Friedrich Andreas Rohns – ein Göttinger Baumeister des Klassizismus? In: Göttinger Jahrbuch, Bd. 62, 2014, S. 127–142, hier S. 127 (Abb. 1) und S. 132 f.
  8. Thomas Küntzel: Gefängnisseelsorge in der alten JVA bei Forum Waageplatz-Viertel
  9. Polizei- und Gerichtsgefängnis bei zwangsarbeit-in-goettingen.de
  10. Gerichtsgefängnis Göttingen nach 1945 beim Niedersächsischen Landesarchiv Abteilung Hannover
  11. Heidi Niemann: „Immobilie mit Charme und Potenzial“: Stadt Göttingen will ehemalige JVA verkaufen, auf hna.de (Hessisch/Niedersächsische Allgemeine), 30. Mai 2024, abgerufen am 6. Juni 2024.
  12. Thomas Kopietz: Ehemalige JVA Göttingen: Museum, Hostel und ein Großentwurf. In: hna.de (Hessisch/Niedersächsische Allgemeine). 9. Juni 2022, abgerufen am 6. Juni 2024.
  13. Reimar Paul: Initiative will in den Knast in taz vom 8. Mai 2024
  14. Ehem. JVA bei Forum Waageplatz-Viertel
  15. Bernd Schlegel: Aktivisten besetzen Ex-Gefängnis in Göttinger Innenstadt bei hna.de vom 5. Oktober 2022
  16. Reimar Paul: Alter Knast in Göttingen besetzt in taz vom 6. Oktober 2022
  17. Polizei beendet Besetzung von ehemaliger JVA in Göttingen bei ndr.de vom 7. Oktober 2022
  18. Exposé. Angebotsunterlagen Ehemalige JVA Göttingen Obere-Masch-Straße 9, 37073 Göttingen, Denkmalschutzrechtliche Anforderungen S. 13 bei goettingen.de
  19. Sechs Bewerber wollen früheres Gefängnis in Göttingen kaufen, bei ndr.de vom 4. Juni 2024, Abruf am 6. Juni 2024.
  20. Melanie Zimmermann: Initiative für Soziales Zentrum reicht Angebot für ehemalige JVA in Göttingen ein bei hna.de vom 2. Juni 2024

Koordinaten: 51° 32′ 10,86″ N, 9° 55′ 53,9″ O