Lunatic fringe

abwertende Bezeichnung für Vertreter einer Randströmung

Lunatic fringe (engl., etwa „verrückter Rand“, „wahnsinniger Rand“) ist eine abgrenzende und abwertende bildliche Bezeichnung für die Vertreter einer extremistischen, fanatischen oder exzentrischen Strömung am Rande einer politischen, sozialen oder kulturellen Bewegung. Als deutsche Übersetzung wird gelegentlich Narrensaum verwendet (fringe = „Rand, Saum“).[1]

Im Englischen

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In ihrer politischen Bedeutung wurde die englische Redewendung etwa 1913 von dem amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt geprägt, der sie mehrmals benutzte. So sprach er davon, dass es bei jeder Reformbewegung einen „verrückten Rand“ gebe („there is a lunatic fringe to every reform movement“).[2] Roosevelt stellte sich in seiner Autobiografie selbst als Reformer dar, dem mindestens neun Zehntel der ehrlichen Reformbefürworter gefolgt seien; doch die Extremisten und Ultras der Reformbewegung, die ihn nicht unterstützt hatten, rechnete er dem lunatic fringe zu, so etwa die „Ultra-Pazifisten“, die „sogenannten Anti-Imperialisten oder Anti-Militaristen“ und die Befürworter eines „Friedens um jeden Preis“. An einer weiteren vielzitierten Stelle wendet Roosevelt diese Fügung auf die Kubisten und Futuristen an, nämlich in einer Rezension über eine Ausstellung moderner Kunst in New York unter dem Titel An Art Exhibition, die in seine Aufsatzsammlung History as Literature (1913) aufgenommen wurde. Dort schrieb er, es gebe wohl in jeder progressiven Bewegung eine Neigung zur Extravaganz, die der Preis für die Vermeidung von Gemeinplätzen sei. Zwar sei es oft notwendig, die „tote Hand“ der Reaktionäre abzuschütteln, aber man müsse eben auch sehen, dass es unter den Jüngern einer vorwärtsgerichteten Bewegung meist einen Narrensaum gebe, und bei der modernen Kunst seien dies eben die Kubisten und Futuristen.[3]

Der Ausdruck wurde im Englischen sprichwörtlich. Er fand Eingang in die Standard-Wörterbücher des Englischen, etwa das Oxford English Dictionary und den Merriam-Webster. Webster’s Third National Dictionary (1981) gibt als Belege etwa Zitate von John Dos Passos[4] und Harold Laski[5]. Er findet sich auch in zahlreichen Zitatensammlungen, etwa Bartlett’s Familiar Quotations oder dem Yale Book of Quotations. In anderer Bedeutung, nämlich als Bezeichnung für eine modische Ponyfrisur, kann er jedoch schon in den 1870er Jahren nachgewiesen werden.[6]

William Safire beobachtete in seinem Political Dictionary, dass die Fügung „lunatic fringe“, die Theodore Roosevelt vor allem für den radikalen Flügel der Reformer verwendet hatte, in den 1940er Jahren „wiederbelebt“ wurde und ab diesem Zeitpunkt meist gegen die radikale Rechte eingesetzt wurde. Er zitiert eine Rede von Franklin Delano Roosevelt von 1944, in der der Präsident vor der antikommunistischen Angstpropaganda warnte, wie sie die faschistischen Schwarzhemden, die Nazi-Braunhemden „und in diesem Land die Silver Shirts und die Leute aus dem Narrensaum“ verbreiteten.[7]

Verwendung im Deutschen

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Im Deutschen werden sowohl der englische Ausdruck lunatic fringe als auch die Übersetzung „Narrensaum“ gelegentlich verwendet. Auch andere Übersetzungsversuche kommen vor, etwa „Randbezirk des Wahnsinns“[8], „verrückte Randgruppe“[9] oder „halb verrückte Randexistenzen“[10]. „Narrensaum“ und die englische Fügung „lunatic fringe“ findet man gleichbedeutend mehrfach bei dem Historiker Hans-Ulrich Wehler, meist in Anwendung auf extreme völkische Gruppen.[11] Frühe Belege für das Wort Narrensaum gibt es in den Romanen von Ernst von Salomon (Die Geächteten, 1930; Der Fragebogen, 1951).[12] Trotz dieser gelegentlichen Verwendung gibt es keinen Eintrag für Narrensaum in gängigen deutschen Wörterbüchern und Zitatensammlungen, etwa dem Deutschen Wörterbuch, dem Duden, dem Wahrig und dem Büchmann.

Breitere öffentliche Aufmerksamkeit erregte 2016 die Verwendung des Wortes „Narrensaum“ durch den österreichischen FPÖ-Politiker Norbert Hofer, der sich von ausländerfeindlichen Hasspostings auf der Facebook-Seite seines Parteifreunds Heinz-Christian Strache mit der Bemerkung abgrenzte, es gebe einen „echten Narrensaum“ in Österreich; auch er selbst sei schon Opfer von Hasspostings geworden.[13][14] Bei der Wahl zum österreichischen Unwort des Jahres 2016 belegte „Narrensaum“ den neunten Platz mit 118 Stimmen; gewählt wurde Öxit mit über 2000 Stimmen.[15]

Im selben Sinn hatte bereits 1992 Rolf Schlierer, damals stellvertretender Bundesvorsitzender der Partei „Die Republikaner“, versichert, die „Republikaner“ hätten mit dem „rechten Narrensaum“ nichts gemein.[16] Matthias Falter, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien, bewertete derartige Verwendungen als taktische Distanzierung: „Der Begriff des Narrensaums … dient dazu, die eigene Position (am rechten Rand) zu legitimieren, während andere Positionen gleichzeitig delegitimiert und – wie im Fall rechtsextremer Strömungen – implizit verharmlost werden.“[17] Ähnlich argumentierten der Historiker Michael Sturm[18] und die Autorin Andrea Maria Dusl, die in einer Kolumne für die Salzburger Nachrichten schrieb: „Der Begriff des ‚Narrensaums‘ wird gerne ins Treffen geführt, wenn es gilt, politische Entgleisungen am rechten Rand zu entschuldigen.“[19]

Björn Höcke, der Fraktionschef der rechtsextremen AfD im Thüringer Landtag, benutzte den Ausdruck linker Narrensaum bei einem Auftritt im oberfränkischen Forchheim zur Verunglimpfung von Gegendemonstranten eines lokalen Bündnisses aus Gewerkschaften und Parteien (u. a. SPD, CSU, FDP und Freie Wähler).[20]

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Einzelnachweise

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  1. Vgl. Uwe Backes: Demokratiewissenschaft passé? Problemzonen der heutigen Politikwissenschaft aus der Perspektive der Extremismusforschung. In: Alexander Gallus (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Passagen. Deutsche Streifzüge zur Erkundung eines Faches. Nomos, Baden-Baden 2016, S. 189–208, hier: S. 189.
  2. Siehe William Safire: Safire’s Political Dictionary. Neuauflage 2008. Oxford University Press, New York, S. 405; das Zitat findet sich in Roosevelts Autobiographie: Theodore Roosevelt. An Autobiography. Macmillan, New York 1913. Online einsehbar auf archive.org ist die 2. Auflage von 1919, dort S. 296.
  3. Theodore Roosevelt: An Art Exhibition. In: Theodore Roosevelt: History as Literature and other essays, Scribner, New York 1913, S. 301–310, hier: S. 305. Online auf Wikisource. Im Englischen lautet die Stelle: „Probably in any reform movement, any progressive movement, in any field of life, the penalty for avoiding the commonplace is a liability to extravagance. It is vitally necessary to move forward and to shake off the dead hand, often the fossilized dead hand, of the reactionaries; and yet we have to face the fact that there is apt to be a lunatic fringe among the votaries of any forward movement. In this recent art exhibition the lunatic fringe was fully in evidence, especially in the rooms devoted to the Cubists and the Futurists, or Near-Impressionists.“
  4. Aus The Grand Design, 1949: „He’s a staunch New Dealer and a true liberal but he has not been associated with the lunatic fringe of radical experimentation.“ Deutsch etwa: „Er ist ein eingeschworener New Deal-Mann und ein echter Liberaler, aber mit dem Narrensaum der radikalen Experimente hatte er nichts zu tun.“
  5. Aus The American Democracy, 1948: „Hardly less revealing is the direction taken, after the Treaty of Versailles, by the lunatic fringe in American thought.“ Deutsch etwa: „Kaum weniger aufschlussreich ist die Richtung, die der Narrensaum des amerikanischen Denkens nach dem Versailler Vertrag eingeschlagen hat.“ Gemeint sind Erscheinungen wie der Ku-Klux-Klan, wie aus dem Folgesatz hervorgeht.
  6. Siehe Fred Shapiro: You can quote them. In: Yale Alumni Magazine, September/Oktober 2010.
  7. William Safire: Safire’s Political Dictionary. Neuauflage 2008. Oxford University Press, New York, S. 405.
  8. Martin Wieland: Der Führer der britischen Faschisten. „Die beste Methode, Mosley zu diskreditieren: Laßt ihn reden!“ In: Die ZEIT, 10. August 1962. Online.
  9. Theo Sommer: Schlaflose Gendarmen. In: Die ZEIT, 10. Juni 1988. Online.
  10. Egon Schwarz: Der Beitrag der Juden zur deutschen Literatur. In: Hans Otto Horch, Horst Denkler (Hrsg.): Conditio judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v. d. H. Erster Teil. Niemeyer, Tübingen 1988, S. 309–328, hier: S. 325.
  11. Ein Beispiel aus seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte. 1914–1949 (= Band 4), C. H. Beck, München 2003, S. 559: „Dank dieser Rednergabe stieg sein [Hitlers] Stern in den verräucherten Münchner Bierhallen auf, wo die Angehörigen des ‚Lunatic Fringe‘, des rechtsradikalen Narrensaums, verkehrten.“
  12. Siehe Salomon: Die Geächteten, S. 251; Der Fragebogen, S. 401; dazu etwa auch: Zwischenbilanz der Historischen Kommission zur Untersuchung des Falles Schneider/Schwerte und seiner zeitgeschichtlichen Umstände, online, S. 20. Das Wort wird in den Geächteten Hermann Ehrhardt in den Mund gelegt und bezeichnet völkische Sekten, „Runenrauner und Rasserassler“, im Fragebogen steht es im selben Kontext.
  13. Hofer „verurteilt“ Hasspostings und spricht von „Narrensaum“. Der Standard, 18. Oktober 2016, abgerufen am 4. November 2016.
  14. Robert Sedlaczek: Spinner gibt es überall. Wiener Zeitung, 1. November 2016, abgerufen am 4. November 2016.
  15. Unwort des Jahres 2016 (10.198 Stimmen, 198 Einzelwörter), ursprünglich auf oewort.at, archiviert auf web.archive.org.
  16. Kaschmir statt Kampfanzug. In: Der Spiegel, 13. April 1992. Online.
  17. Matthias Falter: Critical Thinking Beyond Hufeisen. „Extremismus“ und seine politische Funktionalität. In: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hrsg.): Ordnung – Macht – Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. Springer VS, Wiesbaden 2011, S. 85–101, hier: S. 95.
  18. Michael Sturm: Schicksal – Heldentum – Opfergang. Der Gebrauch von Geschichte durch die extreme Rechte. In: Martin Langebach, Michael Sturm (Hrsg.): Erinnerungsorte der extremen Rechten. Springer VS, Wiesbaden 2015, S. 17–60, hier: S. 29.
  19. Andrea Maria Dusl in ihrer Kolumne in den Salzburger Nachrichten, 10. Februar 2018.
  20. Forchheim: 1000 Menschen demonstrieren gegen Höcke. In: Nürnberger Nachrichten, 9. August 2018 (nn.de).