Prosopagnosie

Gesichtserkennungsschwäche
Klassifikation nach ICD-10
R41.8, R44.8 Agnosie
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Prosopagnosie [ˈpʁoːzoːpˌaːgnoˈziː] (von altgriechisch τὸ πρόσωπον tò prósōpon „das Gesicht“ und ἡ ἀγνωσία hē agnōsía „das Nichterkennen“), Gesichtserkennungsschwäche oder Gesichtsblindheit bezeichnet die Unfähigkeit, Personen anhand ihres Gesichtes zu erkennen. Es handelt sich also um eine Form der visuellen Agnosie.

Krankheitsbild und Typen

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Das Krankheitsbild wurde erstmals 1947 durch den deutschen Neurologen Joachim Bodamer beschrieben.[1] Er berichtete über drei Patienten, die nach einer Gehirnverletzung außerstande waren, das Pflegepersonal (und teils auch die eigenen Verwandten) wiederzuerkennen. Bodamer prägte die Bezeichnung Prosopagnosie.

Prosopagnosie wird nach De Renzi seit 1986 in zwei Typen unterschieden[2]:

  • apperzeptiv (durch beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit bedingt)
  • assoziativ (durch beschränkte Verknüpfungs- oder Wiedererkennungsfähigkeit bedingt, d. h. das Gesicht als solches wird erkannt, aber das Wissen über die zugehörige Person kann nicht abgerufen werden)

Menschen mit apperzeptiver Prosopagnosie fällt es schwerer als anderen Menschen,

  • Alter und Geschlecht aus dem Gesicht zu erschließen,
  • Emotionen zu erkennen,
  • Gleich-Verschieden-Urteile über ähnliche Gesichter oder über dasselbe Gesicht in verschiedenen Ansichten zu fällen (in extremer Form kann ein Gesicht nicht von ähnlichen Bildern wie beispielsweise einem Wischmop mit einer Sonnenbrille unterschieden werden).

Betroffene mit assoziativer Prosopagnosie können Gleich-Verschieden-Urteile fällen und das Alter und Geschlecht erkennen. Semantische Informationen, also das Wissen über die Person wie Name, Beruf oder Beziehung, können sie ebenso wenig abrufen wie bei apperzeptiver Prosopagnosie. Assoziative Prosopagnosien können bei schweren Gedächtnisstörungen wie einer Alzheimer-Demenz auftreten und sind dann nicht nur auf das Gesicht als identifizierendes Merkmal beschränkt, weswegen manche Wissenschaftler davon ausgehen, dass Prosopagnosien nur apperzeptiv sind. Assoziative Prosopagnosien wären dann korrekter als multimodal person recognition disorder bezeichnet.[3][4]

Ersatz-Erkennungsmerkmale

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Menschen mit Prosopagnosie können problemlos einzelne Merkmale des Gesichts erkennen und zum Teil auch Personen anhand einzelner Gesichtsmerkmale wie Wimpern oder Zahnstellung erkennen. Andere Merkmale wie Stimme, Hände, Gangart, besondere Kleidung oder Frisuren werden auch zur Erkennung von Personen benutzt.[5] Je nach Art der Prosopagnosie können Betroffene unterschiedliche Informationen aus Gesichtern schließen. Nahezu alle Kinder mit Prosopagnosie entwickeln unbewusst Strategien, um mit der Störung umzugehen: Erkennung von Menschen an Stimme, Kleidungsgewohnheiten, Statur sowie Bewegung.

Prosopagnosie kann angeboren (kongenital) sein oder erworben werden, also im Verlauf des Lebens durch eine Krankheit verursacht.

Verletzungen im ventralen Pfad zwischen Okzipital- und Temporallappen, z. B. durch einen Schlaganfall oder Unfall, können eine Prosopagnosie hervorrufen. In diesem Bereich liegt der Gyrus fusiformis, dessen Fusiform Face Area (FFA) – insbesondere auf der rechten Körperseite – an der Erkennung von Gesichtern beteiligt ist. Die Verletzungen, die eine Prosopagnosie hervorrufen, sind jedoch in Größe und exakter Lokalisation unterschiedlich, was dafür spricht, dass ein Netzwerk über Okzipital- und Temporallappen für die Gesichtserkennung zuständig ist.[6] Bei der erworbenen Prosopagnosie findet sich häufig eine begleitende Objektagnosie.

Formen der Prosopagnosie können auch vererbt werden.[7] Die genetische Ursache der Krankheit ist allerdings noch unbekannt.[8]

Menschen mit angeborener Prosopagnosie ist diese meist nicht bewusst. Dies ist vergleichbar mit Kindern mit Rot-Grün-Blindheit, die nicht erkennen, dass die meisten Menschen Farben auseinanderhalten können, bei denen sie selbst keinen Unterschied sehen. Wenn dennoch nahezu alle Rot-Grün-Blinden heute hiervon wissen, ist dies ein Ergebnis von Vorsorgeuntersuchungen für Kinder, bei denen dies routinemäßig getestet wird. Die kongenitale Prosopagnosie wird hingegen trotz relativ hoher Prävalenz bisher in Deutschland in keinen Routinetests untersucht und ist selbst den meisten Ärzten völlig unbekannt.

Gelegentlich wird der Begriff entwicklungsbedingte Prosopagnosie dem der angeborenen (kongenitalen) Prosopagnosie vorgezogen. Kongenital verweist auf das Vorhandensein bei Geburt und entsprechende Störungen müssten bereits bei Geburt nachweisbar sein. Die entwicklungsbedingte Prosopagnosie umfasst alle kongenitale Ursachen, beinhaltet zusätzlich Störungen der Entwicklung der Gesichtserkennung bei Säuglingen.[9]

Häufigkeit

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Bei einer Untersuchung im Jahr 2005 im Raum Münster an 689 Schülern und Studenten wurde eine Prävalenz von 2,47 % (17 von 689) der erblichen Form festgestellt.[10]

Diagnose und Behandlung

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Prosopagnostische Kinder profitieren stark von einer frühen Diagnose, da Bezugspersonen ihnen so beim Erlernen von Ersatz-Strategien helfen können. Zur Diagnose werden neuropsychologische Tests wie der „Benton and Van Allen face recognition test“ eingesetzt.

Eine kausale Behandlung der kongenitalen Prosopagnosie selbst ist nicht bekannt. Die Behandlung orientiert sich an Kompensation des Defizits. Weitere Aufgabe der Behandlung ist die Aufklärung über das Krankheitsbild und somit Freunden und Bekannten die Einschränkung verständlicher zu machen.

Abgrenzung zu Autismus

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Die Symptomatik kann, wenn sie sich manifestiert, leicht mit Autismus verwechselt werden; sie tritt auch sehr häufig als Komorbidität bei Autismus auf.[11]

Wirkung auf die Mitmenschen

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Personen mit Prosopagnosie werden von den Mitmenschen oft als gleichgültig, zerstreut, arrogant und unsozial verkannt.[12]

Siehe auch

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  • Apraxie – eine motorische Störung
  • Bálint-Syndrom – räumliche Aufmerksamkeitsstörung, bei der unter anderem nur Teilaspekte von Bildern wahrgenommen werden, sodass eine Prosopagnosie entstehen kann
  • Capgras-Syndrom – von der älteren Forschung mit der Prosopagnosie assoziiertes Syndrom, bei dem man glaubt, nahe Lebensgefährten seien durch identisch aussehende Doppelgänger ersetzt worden.
  • N170Ereigniskorreliertes Potential, welches maßgeblich die Verarbeitung von Gesichtern repräsentiert
  • Pareidolie
  • Phonagnosie – Unfähigkeit, die Identität von Personen anhand ihrer Stimme zu erkennen
  • Thatcher-Illusion

Literatur

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  • H. Toghi, K. Watanabe, H. Takahashi, H. Yonezawa, K. Hatano, T. Sasaki: Prosopagnosia without topographagnosia and object agnosia associated with a lesion confined to the right occipitotemporal region. In: Journal of Neurology. 248, Jul 1994, S. 470–474, PMID 7964914.
  • Gerald Traufetter: Welt voller Fremder. In: Der Spiegel. Nr. 24, 2003 (online).
  • Martina Grüter: Die Genetik der kongenitalen Prosopagnosie. (PDF) Dissertation. Universität Münster, 2004, abgerufen am 11. Mai 2017.
  • M. Behrmann, G. Avidan: Congenital Prosopagnosia: face-blind from birth. In: Trends in Cognitive Sciences. 9, 2005, S. 180–187.
  • T. Grüter, M. Grüter: Prosopagnosia in Biographies and Autobiographies. In: Perception. 36, 2007, S. 299–301, Volltext (PDF; 79 kB).
  • T. Grüter, M. Grüter, C. C. Carbon: Neural and genetic foundations of face recognition and prosopagnosia. In: Journal of Neuropsychology. 2, 2008, S. 79–97, PMID 19334306.
  • Anne Klippel: Phänomenologie und Diagnostik der kongenitalen Prosopagnosie. (PDF) Dissertation. Universität München, 2011, abgerufen am 28. Januar 2023.
  • Dela Kienle: Kennen wir uns? Eine gesichtsblinde Familie und ihr etwas anderer Alltag, in: Nido 2/2013, S. 30–33.
  • Rossion B. Twenty years of investigation with the case of prosopagnosia PS to understand human face identity recognition. Part I: Function. Neuropsychologia. 2022 Aug 13;173:108278. doi:10.1016/j.neuropsychologia.2022.108278.
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Wiktionary: Prosopagnosie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Forschung

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Dokumentationen

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  • Gesichtsblindheit – wenn alle gleich aussehen. In: Einstein. Schweizer Fernsehen, ehemals im Original (nicht mehr online verfügbar); abgerufen am 4. Februar 2010.@1@2Vorlage:Toter Link/www.srf.ch (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven)
  • Prosopagnosie bei crew united

Seiten von Betroffenen und für Betroffene, Erfahrungsberichte

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Einzelnachweise

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  1. Joachim Bodamer: Die Prosop-Agnosie: Die Agnosie des Physiognomieerkennens. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Vereinigt mit Zeitschrift für die Gesamte Neurologie und Psychiatrie. Band 179, Nr. 1-2, 1947, ISSN 0003-9373, S. 6–53, doi:10.1007/BF00352849 (springer.com [abgerufen am 13. November 2022]).
  2. E. De Renzi: Current Issues on Prosopagnosia. In: Aspects of Face Processing. Springer Netherlands, Dordrecht 1986, ISBN 978-94-009-4420-6, S. 243–252, doi:10.1007/978-94-009-4420-6_26.
  3. Guido Gainotti: Is the Right Anterior Temporal Variant of Prosopagnosia a Form of ‘Associative Prosopagnosia’ or a Form of ‘Multimodal Person Recognition Disorder’? In: Neuropsychology Review. Band 23, Nr. 2, 1. Juni 2013, ISSN 1573-6660, S. 99–110, doi:10.1007/s11065-013-9232-7 (springer.com [abgerufen am 13. November 2022]).
  4. Hans-Otto Karnath, Georg Goldenberg, Wolfram Ziegler, Georg Thieme Verlag KG: Klinische Neuropsychologie - Kognitive Neurologie. 2., unveränderte Auflage. Stuttgart 2022, ISBN 978-3-13-244705-9.
  5. Volker Faust: Flyer Psychische Gesundheit 146: Gesichts-Blindheit (Prosopagnosie). Stiftung Liebenau, Mensch – Medizin – Wirtschaft, Meckenbeuren-Liebenau, 2019. (Gesichts-Blindheit im Alltag).
  6. James V. Haxby, Elizabeth A. Hoffman, M.Ida Gobbini: The distributed human neural system for face perception. In: Trends in Cognitive Sciences. Band 4, Nr. 6, Juni 2000, S. 223–233, doi:10.1016/S1364-6613(00)01482-0 (elsevier.com [abgerufen am 13. November 2022]).
  7. M. Grueter, T. Grueter, V. Bell, J. Horst, W. Laskowski, K. Sperling, P. W. Halligan, H. D. Ellis, I. Kennerknecht: Hereditary prosopagnosia: the first case series. In: Cortex. 43 (6), Aug 2007, S. 734–749. PMID 17710825.
  8. Was Gesichter verraten. In: Quarks & Co. 13. März 2012, 21:00, WDR
  9. Tirta Susilo, Bradley Duchaine: Advances in developmental prosopagnosia research. In: Current Opinion in Neurobiology (= Social and emotional neuroscience). Band 23, Nr. 3, 1. Juni 2013, ISSN 0959-4388, S. 423–429, doi:10.1016/j.conb.2012.12.011 (sciencedirect.com [abgerufen am 8. Oktober 2022]).
  10. I. Kennerknecht, T. Grueter, B. Welling, S. Wentzek, J. Horst, S. Edwards, M. Grueter: First report of prevalence of non-syndromic hereditary prosopagnosia (HPA). (PDF; 110 kB) In: Am J Med Genet. Part A 140A. 2006, S. 1617–1622, doi:10.1002/ajmg.a.31343, PMID 16817175.
  11. C. Ellie Wilson, Romina Palermo, Laura Schmalzl, Jon Brock: Specificity of impaired facial identity recognition in children with suspected developmental prosopagnosia. In: Cognitive Neuropsychology. Band 27, Nr. 1, Februar 2010, ISSN 0264-3294, S. 30–45, doi:10.1080/02643294.2010.490207 (tandfonline.com [abgerufen am 8. Oktober 2022]).
  12. Volker Faust: Liebenauer Gesundheits-Informationen. Psychische Gesundheit. Psychiatrisch-neurologisches Informations-Angebot der Stiftung Liebenau. Unter Mitarbeit von Walter Fröscher und Günter Hole und dem Arbeitskreis Psychosoziale Gesundheit. Stiftung Liebenau. Band 26 (Arbeitsplatz und psychische Störung, Reizüberflutung, Gesichts-Blindheit (Prosopagnosie)), Liebenau, Herbst 2019. S. 22.