Der Begriff soziales Gedächtnis beschreibt soziale Bezugnahmen auf Vergangenes. Dazu gehören neben Routinen, Praktiken oder bedeutsamen Objekten die unterschiedlichen Formen des Erinnerns, aber auch das Unterbleiben solcher Bezugnahmen im Sinne eines Vergessens in Gemeinschaften und Gesellschaften. Aufgrund dieser vielfältigen Ansatzpunkte und weil Vergangenheitsbezüge in unterschiedlichen Bereichen des Sozialen differieren, liegt es nahe, den Begriff im Plural – als soziale Gedächtnisse – zu verwenden.

Soziales Gedächtnis als Metakonzept

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Soziales Gedächtnis ist ein Metabegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher sozial- und kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien. Er grenzt sich einerseits vom kollektiven Gedächtnis[1] ab, da er nicht nur die Vergangenheitsbezüge sozialer Gruppen erfasst, sondern alle Formen sozial vermittelter Vergangenheitsbezüge durch Praxis, Habitus,[2] Biographien, Generationen, soziale Strukturen,[3] soziale Systeme, gesellschaftliche Wissensvorräte[4] oder Diskurse. Und er unterscheidet sich andererseits vom Begriffspaar kommunikatives Gedächtnis und kulturelles Gedächtnis,[5] weil er auf eine Trennung entlang der Kommunikationsform mündlich/symbolisch verzichtet. Zudem erweist sich die Annahme eines übergreifenden kulturellen Gedächtnisses für die hochgradig differenzierten Gesellschaften der Moderne unter den Bedingungen von Globalisierung und Weltgesellschaft als schwierig.

Soziale Gedächtnisse als Wissens- und Zeitgeneratoren

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Gedächtnis wird dabei in Anlehnung an Maurice Halbwachs und Niklas Luhmann[6] als stets gegenwärtiger Vorgang gefasst, der aktuellen Sinnvollzügen selektiv Formen, Muster, Typen, verarbeitete Erfahrungen oder Erwartungen zur Verfügung stellt und damit Wissen konstituiert. Das geschieht auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen in eigenlogischer Weise. Auch wenn individuelle Gedächtnisse stets am sozialen Gedächtnis teilhaben,[7] lassen sich Ergebnis und Entwicklung der sozialen Gedächtnisprozesse nicht vollends auf diese einzelnen Gedächtnisleistungen zurückführen bzw. aus diesen erklären. In diesem Sinne sind die Vergangenheitsbezüge sozialer Gedächtnisse relativ autonom. Gleichwohl beeinflussen soziale Gedächtnisse die subjektive Wahrnehmung und stellen Individuen wie Kollektiven Orientierungswissen zur Bewältigung aktueller wie bevorstehender Situationen zur Verfügung. Soziale Gedächtnisse sind somit die maßgebende Instanz der Entwicklung des individuellen wie kollektiven Zeitbewusstseins – kurzum: Ohne soziale Gedächtnisse gibt es weder Zeit noch Wissen.

Soziales Vergessen

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Komplementärbegriff zum sozialen Gedächtnis ist das soziale Vergessen. Mit Vergessen wird jede Form des ausbleibenden oder unterlassenen Bezugs auf Vergangenes bezeichnet. Vergessen ist damit eine Nicht-Adressierung oder Nicht-Anwendung vorhandener Strukturmomente.[8] Gedächtnis ist somit weder Speicher- noch Konservierungsinstanz, sondern ein strukturierter Selektionsmechanismus, der bestimmte Eindrücke pfadabhängig aufgreift oder ausblendet. Im Fortgang seiner Aktivität bildet es seine eigene Struktur permanent um. Das kann auch unbewusst erfolgen – man weiß dann gar nicht, dass man etwas vergessen hat. Sozial vergessen werden Wissensbestände, die, aus welchen Gründen auch immer, nachhaltig nicht adressiert und aktualisiert werden. Ursachen sozialen Vergessens sind zum Beispiel die strukturale Amnesie, die sich aus der permanenten Veränderung der Sprache ergibt oder gesellschaftlicher Wandel, in dessen Fortgang Gegenstände (Objekte, Werte, Normen) verblassen, für die keine Notwendigkeit mehr besteht. Während Gesellschaften von sich aus vergesslich sind, findet soziales Vergessen auch gezielt statt, indem bestimmte Wissensinhalte entweder kollektiv verdrängt und beschwiegen (Vergessenwollen) oder systematisch ausgeblendet (Vergessenmachen) werden. Das Auffinden und Zurückverfolgen von Spuren kann soziales Vergessen bewusst machen, wenn klar wird, dass man es mit etwas zu tun hat, dessen Sinn einmal existiert haben muss.

Soziales Erinnern

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Soziales Erinnern markiert einen Ausnahmefall des sozialen Gedächtnisses. Erinnert wird nur das, was bewusst werden kann. Für soziales Erinnern gilt, dass man das Erinnerte symbolisch bzw. deklarativ vermitteln, also zum Beispiel erzählen oder sich im Sinne kognitiver Schemata vergegenwärtigen können muss. Erinnerung bezieht sich damit stets auf Erfahrung, die wiederum als kognitiv verarbeitetes Erlebnis verstanden werden kann. Erinnern kann nach Maurice Halbwachs nur unter den je gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stattfinden, die durch soziale Gedächtnisse abgesteckt werden. Jedes Individuum wurde durch spezifische soziale Kontexte geprägt und verfügt über ein einzigartiges Arrangement an Erinnerungsmöglichkeiten; hinzu kommt, dass jede Situation, in die der oder die Einzelne gerät, aus seiner oder ihrer subjektiven Sicht bestimmte Erinnerungsstimuli nahelegt. Erinnern findet daher stets als bewusste Assoziation der aktuell wahrgenommenen Situation mit eigenen Erfahrungen statt. Diesen Zusammenhang kann man auch politisch nutzen, indem man bestimmte Erinnerungskontexte im Sinne von Erinnerungsorten schafft. Erinnerungs- oder Gedächtnispolitik[9] bilden eine spezifische Spielart sozialer Gedächtnisaktivitäten mit Blick auf erinnerte Vergangenheit.

Literatur

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  • Oliver Dimbath, Michael Heinlein: Gedächtnissoziologie. Fink UTB, Paderborn 2015, ISBN 978-3-8252-4172-8
  • Oliver Dimbath, Michael Heinlein Hrsg.: Die Sozialität des Erinnerns. Beiträge zur Arbeit an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses. Springer VS, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-658-03469-6
  • Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, ISBN 978-3-518-29157-3
  • Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp, Frankfurt 1985, ISBN 978-3-518-28138-3
  • Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Fischer, Frankfurt 1991, ISBN 978-3-596-27359-1
  • Michael Heinlein, Oliver Dimbath, Larissa Schindler, Peter Wehling Hrsg.: Der Körper als soziales Gedächtnis. Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-09742-4
  • René Lehmann, Gerd Sebald, Florian Öchsner Hrsg.: Formen und Funktionen sozialen Erinnerns. Sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Springer VS, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-658-00600-6
  • Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1997, ISBN 3-518-58247-X, S. 576–594
  • Christian Meier zu Verl, Sandrine Gukelberger Hrsg.: Soziales Erinnern: Körper, Praktiken und Konflikte (Themenheft). Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 2024, online
  • Gerd Sebald: Generalisierung und Sinn. Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse und des Sozialen. UVK, Konstanz 2014, ISBN 978-3-86764-576-8
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Einzelnachweise

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  1. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, ISBN 978-3-518-28138-3 sowie Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Fischer, Frankfurt 1991, ISBN 978-3-518-28138-3
  2. Jörg Michael Kastl: Der Habitus als non-deklaratives Gedächtnis. Zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Psychologie. In: Sozialer Sinn 2, 2004, S. 195–226
  3. Als gedächtnishaft lassen sich sämtliche Aspekte sozialer Ungleichheit begreifen, zum Beispiel Familiengedächtnisse, Geschlechtergedächtnisse, Klassengedächtnisse, Arbeitergedächtnisse etc.
  4. Hierbei handelt es sich um einen zentralen und gedächtnistheoretisch relevanten Begriff der Sozialphänomenologie nach Alfred Schütz; im Zusammenhang des Sozialkonstruktivismus wird diese Position von Peter L. Berger und Thomas Luckmann ausgebaut – eine gedächtnistheoretische Reflexion findet sich bei Mathias Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Harrassowitz, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-447-05921-3.
  5. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 7. Auflage, C.H. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-56844-2 bzw. Aleida Assmann: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik, 13, S. 183–190
  6. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1997, ISBN 3-518-58247-X, S. 578
  7. Hierbei ist von einer Wechselwirkung auszugehen, bei der sowohl soziale Gedächtnisse die Gedächtnisse der Individuen prägen als auch individuelle Gedächtnisse Aspekte sozialer Gedächtnisse konstituieren. Vgl. zu einer Perspektive auf das individuelle Gedächtnis als soziales Gedächtnis klassisch Maurice Halbwachs sowie beispielsweise Jörg Michael Kastl: Die insgeheime Transzendenz der Autopoiesis: Zum Problem der Zeitlichkeit in Luhmanns Systemtheorie. In: Zeitschrift für Soziologie 27 (6), S. 404–417.
  8. Oliver Dimbath: Oblivionismus. Vergessen und Vergesslichkeit in der modernen Wissenschaft. UVK, Konstanz 2014, ISBN 978-3-86764-493-8.
  9. Helmut König: Politik und Gedächtnis. Velbrück, Weilerswist 2008, ISBN 978-3-938808-50-4