Wir, die Wikipedianer, haben uns in vielfältiger Weise Gedanken darüber gemacht, was wir tun und was das Produkt unserer Arbeit, die Enzyklopädie, eigentlich ist. Kaum weniger spannend ist die Frage, wer wir sind, sprich, wie unser Selbstverständnis als sozialer Gruppe aussieht. Manch einer möchte die Frage am liebsten ganz ausgeklammert wissen, da es nur um die Sache gehe und die Wikipedia kein Forum sei. Anderen ist die Sache ganz klar: Sie wissen, dass die Wikipedia „keine Demokratie“ sei und finden das gut. Wieder andere beklagen, dass es bei uns nur eine Herrschaft weniger über die vielen gebe. Die einen feiern das Projekt als gelungenen Zusammenschluss freier Individuen, andere verdammen es als Ausdruck des kollektiven Maoismus. Ich denke, jede dieser Positionen hat etwas für sich. Die Wikipedia ist also eine soziale Gemeinschaft sui generis, die sich schwer mit irgendeiner anderen Gemeinschaft vergleichen lässt. Sie ist einzigartig und das macht sie für mich besonders spannend.
Die Zusammensetzung
BearbeitenSehen wir uns das einmal genauer an. Zunächst gewissermaßen die soziale Analyse und zahlenmäßige Bestandsaufnahme. Laut der Statistik umfasste die deutschsprachige Wikipedia zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Januar 2007 genau 123.477 „Wikipedianer“ - wir wissen, dass es in der Natur der Sache liegt, dass diese Zahl mit etwas Vorsicht zu genießen ist. Abzuziehen wären eine unbekannte Dunkelziffer von Sockenpuppen, gewissermaßen die Menschen mit Zweitwohnsitz und die „Illegalen“, nicht beim Einwohnermeldeamt registrierten. Dennoch dürfte sich die Gesamtzahl der Teilnehmer auf über 100.000 belaufen, wir reden also gewissermaßen von einer Großstadt. In dieser sind nun also Menschen deutscher Zunge vertreten, die überwiegend in Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz sitzen, zum Teil aber auch ganz woanders, irgendwo in den USA oder in Australien etwa. Es ergibt sich außerdem aus der Natur der Sache, dass die ganz jungen ebenso wie die ganz alten nicht dabei sind. Immerhin haben wir 11-Jährige ebenso an Bord wie über 80-Jährige. Die Wikipedistik hat außerdem festgestellt, dass der Frauenanteil immer noch bedauerlich gering ist, ohne wirklich Ursachen für diesen Missstand benennen zu können. Außerdem dürfte aus der Natur der Sache heraus der gewöhnliche Wikipedianer einen etwas höheren IQ haben als der Durchschnittsbürger da draußen. Zwei Drittel der Bewohner unserer Wikipedia-Welt sind Benutzer mit weniger als 10 Edits, wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, ob diese Mehrheit der Benutzer für einen wesentlichen Teil der Arbeit in der Wikipedia verantwortlich ist oder ob die eigentliche Arbeit von relativ wenigen „alten Hasen“ geleistet wird. Meine unmaßgebliche persönliche Meinung ist, dass beide Gruppen (die ohnehin nicht klar voneinander abgrenzbar sind) in etwa dieselbe Bedeutung für das Projekt haben. Woraus sich für mich auch schon eine Grundregel ableiten würde, dass im Bewusstsein, dass wir uns gegenseitig brauchen, jede Art von Überlegenheitsgefühl, Dünkel oder ähnlichem von einer Gruppe über die andere sich von selbst verbieten sollte, ob wir nun von Administratoren, registrierten Benutzern, IPs, Newbies, über-10.000-Edit-Schreibern oder sonstwem reden.
Die Regeln
BearbeitenDamit kommen wir zu der spannenden Frage, nach welchen sozialen Regeln und Normen das Miteinander innerhalb der Wikipedia eigentlich funktioniert. Es sind derer erstaunlich wenige, zumindest, was die geschriebenen Regeln, die „Gesetze“, angeht. Man hat die Verfassung der USA dafür gelobt, dass sie mit lediglich sieben Artikeln das Zusammenleben einer der größten Nationen der Erde über Jahrhunderte einigermaßen erfolgreich gewährleiste, auch die Zehn Gebote beeindrucken vor allem durch ihre Kürze und Klarheit. Die Wikipedia kann das noch besser, wir kommen bekanntlich mit wenigen elementaren Grundsätzen aus, die von unserem Founding Father Saint Jimbo aufgestellt wurden und die da lauten: Die Gemeinschaft dient dem Zweck, eine freie Enzyklopädie zu erstellen; dabei sind der neutrale Standpunkt, die Verifizierbarkeit und die Vermeidung von Theoriefindung zu beachten; außerdem gilt die GNU-FDL und die Wikiquette. Punkt. Manche Benutzer haben sich zusätzlich Manifeste, Mantren und Selbstverständlichkeiten ausgedacht, aber die grundsätzliche Idee ist, dass alles Weitere die Teilnehmer des Projekts unter sich ausmachen sollen, mögen die besseren Argumente gewinnen. Staatsrechtler, die einen Staat betrachten würden, der auf einer vergleichbar dünnen konstitutionellen Basis beruhte, würden diesen vermutlich als von vornherein zum Scheitern verurteilten Failed State ansehen, da bei einem solchen Mangel an geschriebenen Regeln und fester Organisation zweifelsfrei sehr schnell das allgemeine Chaos, Anarchie und Bürgerkrieg ausbrechen würde; sie müssten dazu nicht einmal ein besonders negatives Menschenbild haben oder Kulturpessimisten sein, Negativbeispiele bietet die Welt genug. Auch die Wikipedia wird bekanntlich von ständigen Unkenrufen begleitet, sie kommen von außen wie von innen, die ihr den baldigen Untergang prophezeihen, nicht zuletzt wegen ihrer Unorganisiertheit. Bislang gilt aber für diese Unkenrufe wie für alle Untergangspropheten: Noch dreht sich die Welt und noch entwickelt sich auch die Wikipedia munter weiter. Nicht gerade selbstverständlich, wenn man sich überlegt, dass die Lebenszeit von Internetprojekten ansonsten häufig nicht unbedingt besonders lang ist. Wäre man Sozialdarwinist, müsste man zumindest eingestehen, dass im „Kampf ums Dasein“ die Wikipedia offenbar lebenstüchtiger ist als manche ihrer Konkurrenten. Meine These ist die, dass dies nicht zuletzt an ihrem einzigartigen sozialen Aufbau liegt.
Die Wikipedia als soziale Gemeinschaft oder: Alle Wikipedianer sind gleich (?)
BearbeitenWikipedia:Machtstruktur beschreibt recht gut, wie sich bei weitgehendem Fehlen schriftlicher sozialer Normen im Rahmen spontaner Selbstorganisation eine Mischung aus Elementen verschiedener Herrschaftsformen gebildet hat. Die Wikipedia ist demnach zugleich oligarchisch, demokratisch, anarchisch, diktatorisch, meritokratisch und technokratisch. Wie diese einzelnen Elemente zu gewichten sind, darüber gehen die Meinungen auseinander, das kann in einer so komplexen Gemeinschaft auch gar nicht anders sein. Ich bin für meine bisweilen unkonventionellen Denkansätze bekannt und will daher auch hier ein paar etwas provokante Thesen einbringen, die zum Nachdenken darüber anregen mögen, wer wir Wikipedianer sind und wie wir miteinander umgehen. Es wird immer wieder betont, dass die Wikipedia kein Staat sei, da es ihr alleine schon an einem Staatsgebiet mangele und es sich auch sonst nicht mit anderen Völkerrechtssubjekten vergleichen lasse. Das ist wahr, aber letztlich auch nur die halbe Wahrheit. Wir haben keinen Sitz in der UNO und auch kein Staatsoberhaupt oder Parlament, dennoch wird man nicht bestreiten können, dass da über 100.000 Leute irgendwie miteinander umgehen. Sie tun dies in ihrer Rolle als Schreiber einer Enzyklopädie, so wie sie am Staat in ihrer Rolle als Staatsbürger teilhaben. Die oben angerissene Zusammensetzung dieser sozialen Gemeinschaft, ihr selbstorganisierendes Vorgehen und der Zweck, eine umfassende Enzyklopädie zu schreiben, bestimmen nun das Verhältnis der Wikipedianer untereinander. Natürlich sind nicht alle Wikipedianer gleich; auch in der Menschenrechtslehre bedeutet „alle Menschen sind gleich“ ja nicht, dass da etwa die tatsächliche physische und psychische Gleichheit aller Menschen postuliert würde, sondern im Gegenteil, die Verschiedenheit der Individuen wird anerkannt, die Menschen sollen aber ungeachtet dieser Verschiedenheiten gleich behandelt werden; unterschiedliches Recht darf sich nicht aus verschiedenen Ständen, Religionen, Hautfarben, Geschlechtern herleiten, so jedenfalls das Credo der politischen Aufklärung, dem sich bürgerliche wie sozialistische Staaten gleichermaßen verpflichtet fühlen.
Und in der Wikipedia? Da es sich bei einer Enzyklopädie geradezu um ein klassisches Thema der Bildungswelt handelt, liegt es nahe, an den Begriff der Gelehrtenrepublik zu denken, oder neudeutsch auch an den der Scientific community. Wir haben gesehen, dass in der Tat demokratisch-republikanische Elemente eine große Rolle spielen - Administratoren werden gewählt, trotz allgemeiner Vorbehalte gegen das Sockenpuppenunwesen, das solche Wahlen immer auch problematisch mache; die Hürden für das aktive und das passive Wahlrecht sind vergleichsweise moderat; die Macht der Administratoren hält sich, zumindest nach deren eigenem Bekunden, auch in Grenzen - man beteuert, dass es lediglich um rein technische Zusatzfunktionen, um den Zugriff auf ein paar „Knöppe“ gehe; im übrigen kann jeder sich per Editieren an der Erstellung der Enzyklopädie (bekantlich immer noch der Hauptzweck des Ganzen) beteiligen, wenn er nicht gerade durch fortgesetzte Böswilligkeit in Form von Vandalismus oder groben Verstößen gegen die Wikiquette auffällig geworden ist. Auch in demokratischen Staaten können schweren Straftätern ihre Rechte als Staatsbürger ganz oder teilweise aberkannt werden, soweit also nichts Ungewöhnliches. Nun gibt es aber in der Tat Ungleichheiten beim Personal. Wohl ist die formelle Hierarchie denkbar flach und die Idee des herrschaftsfreien Diskurses im Rahmen einer platonischen Synusie dürfte dem recht nahe kommen, was sich der enthusiastische Wikipedianer in sozialer Hinsicht von dem Projekt erwartet. Dennoch macht es aber in der Praxis oft genug einen Unterschied, ob eine IP mit nur einem Edit etwas sagt oder ob eine solche Aussage von einem „gestandenen Wikipedianer“, gar einem Admin kommt. Quod licet Iovi, non licet bovi ist da für viele die Devise. Die durchaus auch manches für sich hat. Wie im Real Life kann man die Verlässlichkeit eines Menschen und den Wert seiner Aussagen naturgemäß besser einschätzen, je besser man ihn kennt und je mehr Aussagen von ihm bereits vorliegen, die man bei seiner Bewertung zugrundelegen kann. Manch einer postuliert dann auf der Grundlage dieses Sachverhalts ein Bekenntnis zur Meritokratie, die ja tatsächlich ein Element des Projekts ist. Ironisch veranlagte Benutzer verteilen dann Orden und Gummibärchen auf den Benutzerseiten solcher Kollegen, die sich in ihren Augen besonders verdient gemacht haben; das motiviert und fördert das Arbeitsklima, auch wenn jedem dabei bewusst ist, dass es sich dabei eher um unverbindliche Gesten handelt - bekanntlich wird trotz der investierten Arbeit und Lebenszeit niemand von uns materiell entlohnt oder mit realen Privilegien ausgestattet, mit denen er jenseits der virtuellen Welt hausieren gehen könnte. Gerade dieses System virtueller Anerkennung, dieses Grooming, das real zum Zusammenhalt unserer eigentlich vollkommen disparaten Gemeinschaft beiträgt, ohne dabei eine wirklich greifbare Realität zu besitzen, hat für mich einen ganz besonderen Reiz. Ich habe mich einmal in einer Glosse mit einem Augenzwinkern als eine Art „Stachanow der Wikipedia“ bezeichnet; augenzwinkernd natürlich deshalb, weil hier bei uns Fleiß, Intelligenz und kontinuierliches Arbeiten für das Projekt respektiert und anerkannt wird (interne Bewertungssysteme, so problematisch sie im Detail seien mögen, beweisen das), ohne dass daraus aber eine totalitäre Ideologie gemacht würde - die Mitarbeit ist freiwillig, es gibt kein Planungssoll, dass die Mitarbeiter einzuhalten haben; beim Einstellen von Artikeln ist lediglich ein Minimum an Qualität zu gewährleisten; es gibt Substubeinsteller, Band-Spammer und ähnliches Volk, die auch an dieser niedrigen Hürde scheitern, aber verglichen mit der Gesamtproduktion ist das doch eher eine Randerscheinung; die Masse des Wikipedia-Volks leistet solide Arbeit und genau das ist natürlich der Hauptgrund für den relativen Erfolg dieser Enzyklopädie. Letztlich wird also jeder konstruktive Beitrag zum Projekt wertgeschätzt und das ist gut so.
Plädoyer für ein preußisch-maoistisches Ethos
BearbeitenMir geht es aber umgekehrt auch darum, dass dieses System der virtuellen Anerkennung keine Eigendynamik im Sinne einer echten Herrschaft der Leistungselite über das „Fußvolk“ bekommt. Das Augenzwinkern sollte immer essentieller Teil des Systems sein. Wer wikipediasüchtig ist, wer sich in Diskussionen so verhält, als ginge es um Leben oder Tod, der hat den Unernst der Lage nicht verstanden und sollte sich vielleicht eine Pause gönnen. Natürlich sollten wir nach höchstmöglicher Qualität des Inhalts streben. Perfektionismus in der Sache ist bei einer Enzyklopädie nicht die schlechteste Tugend. Das darf aber nie dazu führen, dass man dabei diejenigen, die in der persönlichen Betrachtung (niemand von uns ist im Besitz der alleinigen Wahrheit) diesem perfektionistischem Ziel nicht gerecht werden, angreift, kränkt, beleidigt oder schädigt. Wir haben dafür unsere Wikiquette und das Prinzip der Wikiliebe, aber es sollte für jeden klar sein, dass es dabei nicht um Formalia geht, sondern dass wir von einer Art Grundethos des Miteinanders reden. Bei aller Abneigung gegen Totalitarismen gilt hier tatsächlich das vielgeschmähte Ideal eines maoistischen Kollektivs. Man könnte noch provokanter formulieren: Du bist nichts, die Wikipedia ist alles - alles, wie gesagt nicht im Sinne eines das Leben dominierenden Prinzips, das jede Individualität töten würde, sondern alles im Sinne des Primats der Gemeinschaft vor Einzelinteressen, denn anders kann so ein Kollektivprojekt nicht erstellt werden. Theoretisch ist es beispielsweise gemäß GNU-Lizenz erlaubt, dass ein Autor einen Artikel signiert und damit kennzeichnet, dass er einen wesentlichen Teil dazu beigetragen hat; in der Praxis ist so etwas aus gutem Grund verpönt. Selbst die Angabe der „Hauptautoren“, die die Lizenz vorsieht, ist wegen der Natur der freien Editierbarkeit hochproblematisch. Die Gewährung von Urheberrechten beißt sich mit der Idee, dass diese Enzyklopädie das Werk einer Schwarmintelligenz ist; die Experten, die intern über Urheberrechtsfragen etwa beim Zusammenlegen oder Übersetzen von Artikeln zu entscheiden haben, wissen ein Liedchen davon zu singen. Mein Plädoyer hier gilt dem Ethos des anonymen Beiträgers, der, preußisch gedacht, der Devise „Mehr Sein als Scheinen“ folgt. Die Wikipedia entsteht weder von selbst noch wird sie von Wissensrobotern geschrieben, persönliche Eitelkeiten und Besitzerstolz sind nur zu menschlich; Wikipedianer sind dagegen nicht mehr gefeit als Normalsterbliche auch. Es gilt ohnehin der Internetgrundsatz, dass Du es hier immer mit realen Menschen zu tun hast, die auch in der virtuellen Welt mit dem gleichen Respekt zu behandeln sind, den wir ihnen auch im Real Life entgegenbringen würden. Andererseits gelten die Vorbehalte gegen Selbstdarsteller nicht nur denjenigen, die gerne Artikel über ihre relativ irrelevante eigene Person einstellen möchten, sondern genauso denjenigen, die sich über die Maßen wikipediaintern selbst profilieren wollen. Denen ist zu sagen, dass sie auch nur ein Mensch wie andere auch sind und dass ihnen, bei allem Respekt vor ihrem Wissen und ihrer Kompetenz, Bescheidenheit ganz gut anstehen würde. Die Erfahrung bestätigt dabei das Paradoxon, dass gerade diejenigen Mitarbeiter, die am bescheidensten auftreten, am Ende die größte Anerkennung bekommen, selbst wenn es nur eine augenzwinkernde und virtuelle Anerkennung ist.