Ratengleichungen sind Gleichungen, welche bei gekoppelten chemischen Reaktionen den zeitlichen Konzentrationsverlauf verschiedener chemischer Stoffe beschreiben oder bei An- und Abregungsprozessen den Besetzungsverlauf der Energieniveaus in Atomen oder Molekülen beschreiben.

Hierbei wird für jeden Stoff bzw. Zustand, den das System umfasst, eine Differentialgleichung aufgestellt. Diese Differentialgleichung beschreibt jeweils die Änderung der Konzentration eines beteiligten Stoffes – eben durch die Raten der Zu- und Abflüsse. Es müssen stets alle Beiträge zu den Zu- und Abflüssen betrachtet werden, die die Konzentration des betrachteten Stoffes ändern. Wird für jede Konzentration der an der Reaktion beteiligten Stoffe (Edukt, Produkt, Zwischenprodukte), eine Differentialgleichung aufgestellt, erhält man ein System von gekoppelten Differentialgleichungen. Dieses System gekoppelter Differentialgleichungen kann den zeitlichen Verlauf der betrachteten Ration vollständig beschreiben (Reaktionskinetik). Bei der Beschreibung von Reaktionskaskaden und vielen vorkommenden Stoffen kann die Anzahl der Terme in einer Differentialgleichung und die die Anzahl der Differentialgleichungen selbst schnell unübersichtlich werden. Aus praktischen Gründen werden daher oft von vornherein einige Übergänge ausgeschlossen und die Raten auf Null gesetzt.

Ratengleichung werden i. d. R. genutzt, um experimentell ermittelte Daten zu modellieren. Die Konzentrationsverläufe (Konzentrationsänderung in Abhängigkeit von der Zeit) werden i. d. R. experimentell ermittelt und als Eingaben verwendet. Die Ratenkoeffizienten und weitere Parameter werden numerisch ermittelt und als Ergebnis ausgegeben. Dabei beziehen sich die Konzentrationen nicht ausschließlich auf chemische Reaktionen, sondern auch auf Besetzungsdichten atomarer und molekularer Zustände. Der praktische Nutzen der Ratengleichungen besteht beispielsweise in

  • Erkenntnissen über das grundlegenden Verständnis zu Reaktionen (z. B. aufgrund der aktiven Fläche oder der Mitwirkung einer nur kurzlebigen Spezies)
  • Erkenntnissen zu Scale-up-Problematiken, da mit Messreihen im Labor auf einen industriellen Maßstab extrapoliert werden kann
  • die quantitativen Vergleichbarkeit des Einflusses der im Experiment manipulierten Parameter (Katalysatoren, Gefäßgröße, Energiezufuhr in Form von Wärme, Strahlung, Druck, Quenscher …)
  • Nachweis naturwissenschaftlicher Mechanismen, die den Wert eines Ratenkoeffizienten vorhersagen (z. B. Einsteinkoeffizienten, Kascha-Regel, Auswahlregeln)

Nicht naturwissenschaftliche Anwendungsgebiete sind z. B. Modellierungen von Mitarbeiterfluktuationen in den Ebenen eines Unternehmens.

Aus bekannten Raten können auch Vorhersagen und Optimierungssimulationen erstellt werden. Üblicherweise sind die Konzentrationen im Gleichgewicht und die Zeit zum Erreichen des Gleichgewichts von Interesse. Eine analoge Simulation eines Ratenprozesses ist das Stechheberexperiment.[1]

Schwachpunkte bei der Anwendung von Ratengleichungen sind u. a.

  • Anzahl der freien Parameter
  • die Uneinigkeit über das zu verwendende System von Zuständen und deren Wechselwirkung
  • die Darstellung von Messwerten, Fitwerten und den zugehörigen Fehlern

Die Änderungsrate der Konzentration einer Spezies ist die Summe der Änderungsraten der Konzentrationen, welche durch verschiedene Reaktionen hervorgerufen werden:

,

wobei die betrachtete Spezies, ihre Konzentration und ein Index ist, der über alle auftretenden Reaktionen (also auch jeweils über die Hin- und Rückreaktion) läuft. ist die Reaktionsgeschwindigkeit der Reaktion . Die Reaktionsgeschwindigkeit ist proportional zum Produkt der Eduktaktivitäten der Reaktion , mit der Geschwindigkeitskonstante der Reaktion als Proportionalitätskonstante:

.

Dadurch ergibt sich die Ratengleichung als:

wobei

  • die Aktivität der Spezies – häufig wird vereinfachend die Konzentration verwendet –,
  • die stöchiometrischen Koeffizienten der Spezies in der Reaktion ,
  • die Beträge der stöchiometrischen Koeffizienten, falls die Ratengleichung mit Aktivitäten aufgestellt ist, oder die partiellen Reaktionsordnungen der Spezies in der Reaktion (im Allgemeinen ungleich den stöchiometrischen Koeffizienten), falls die Ratengleichung mit Konzentrationen aufgestellt ist,
  • die Ratenkoeffizienten (i. A. Geschwindigkeitskonstanten),
  • die Anzahl der Reaktionen und
  • die Anzahl der beteiligten Stoffe in der Reaktion ist.

Bei den Ratengleichungen handelt es sich im Allgemeinen um ein System von gekoppelten, steifen, nichtlinearen Differentialgleichungen erster Ordnung, für die die Bausteinerhaltung gelten muss. Im stationären Fall ergibt sich das Massenwirkungsgesetz. Ratengleichungen können kompakt mithilfe der Stöchiometrischen Matrix dargestellt werden.

Durch Lösung der Differentialgleichungen erhält man den zeitlichen Verlauf der mittleren Konzentrationen. Um Realisierungen der Konzentrationen inklusive Fluktuationen zu erhalten, können stochastische Simulationen mit dem Gillespie-Algorithmus ausgeführt werden.

Herleitung

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Die Ratengleichungen lassen sich für alle beteiligten Spezies herleiten, indem die Kontinuitätsgleichung mit Quell- beziehungsweise Senkterm (bzw. einer Bilanzgleichung) für die Teilchenkonzentrationen aufgestellt werden:

 ,

wobei   der Quellterm ist, welcher von den Aktivitäten   abhängt. Diese Aktivitäten sind im Allgemeinen wiederum nichttrivial von allen Konzentrationen abhängig.

Da eine Gleichgewichtsreaktion immer eine Hinreaktion und eine Rückreaktion besitzt, existieren die Hin-Reaktionsrate   und die Rück-Reaktionsrate  .

Der Quellterm ist durch eine Summe über alle Reaktionen gegeben:

 

Man beachte, dass die partielle Reaktionsordnung (der Exponent, mit dem die Konzentrationen eingehen) nur dann dem Betrag der stöchiometrischen Koeffizienten entspricht, wenn Aktivitäten verwendet werden. Werden statt Aktivitäten ebenfalls Konzentrationen im Quellterm verwendet und liegen Teilchenwechselwirkungen vor, so sind die Beträge der stöchiometrischen Koeffizienten mit den partiellen Reaktionsordnungen zu ersetzen. Die partielle Reaktionsordnung kann beliebige Werte annehmen (z. B. 0) und wird experimentell bestimmt.

Verschiedene Fälle

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  • Im Gleichgewicht gibt es keine Teilchenströme ( ) und die Teilchenkonzentrationen ändern sich nicht mehr zeitlich. Daher gilt im Gleichgewicht:
 
Unter der Annahme, dass jede Reaktion (als Paar von Hin- und Rückreaktion) im Einzelnen ausgeglichen ist, erhält man für jede Reaktion das Massenwirkungsgesetz durch Umformung:
 
  • Ist das System im Nichtgleichgewicht, aber homogen, so treten keine Teilchenströme auf, jedoch ändern sich die Konzentrationen zeitlich, bis das Gleichgewicht erreicht ist:
 
  • Für den Fall, dass man ein inhomogenes System im Nichtgleichgewicht betrachtet, ist der Teilchenstrom   und kann durch das erste Fick’sche Gesetz
 
beschrieben werden (wobei der nicht-ideale Exzess-Term nur für nicht-ideale Systeme auftritt). Man erhält dann eine Reaktionsdiffusionsgleichung.
  • Für den Fall, dass es zusätzlich Strömung im System gibt, ist Konvektion im Teilchenstrom zu berücksichtigen und man erhält die Konvektions-Diffusions-Gleichung.

Ratenkoeffizenten

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Die in den Ratengleichungen auftretenden Reaktionsratenkoeffizienten können allgemein als beliebige Funktionen der jeweiligen, gegebenenfalls zeitabhängigen, Temperatur (siehe auch Plasmaphysik: Thermisches Gleichgewicht) betrachtet werden. Im Allgemeinen müssen Ratenkoeffizienten für chemische Prozesse der schweren Teilchen aus der Literatur entnommen werden ('Geschwindigkeitskonstante' einer chemischen Reaktion), die Ratenkoeffizienten für die elektronenstoßinduzierten Prozesse können mit Hilfe der Elektronenkinetik erhalten werden.

Grundlage für die kinetische Behandlung der Elektronen, sowohl zur Berechnung derartiger Ratenkoeffizienten, als auch elektronischer Transportprozesse (elektrische Leitfähigkeit) bildet die Boltzmann-Gleichung für die Elektronenenergieverteilung.

Beispiele

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Wasserstoffoxidation

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Numerische Lösung, mithilfe von scipy.integrate.odeint. Die Reaktionsraten   und die Anfangskonzentrationen sind in diesem Beispiel beliebig gewählt.   ist eine Referenzkonzentration.

Zur Verdeutlichung wird die Wasserstoffoxidation herangezogen:

  (Ratenkoeffizient:  )

ein Teil dissoziiert

  (Ratenkoeffizient:  )

Die Ratengleichungen (Gl.1) für die fünf Spezies lauten:

 
 
 
 
 

Die Konzentrationen der Spezies:

 

Belousov-Zhabotinsky-Reaktion

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Oszillierende Reaktionen werden durch Ratengleichungen beschrieben. Für spezielle Modelle hierzu, siehe Oregonator und Brüsselator. Die numerische Lösung solcher Differentialgleichungssysteme liefert dann oszillierende chemische Konzentrationen[2].

Lotka-Volterra-Gleichungen

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Die Wechselwirkung von Räuber- und Beutepopulationen wird durch die Lotka-Volterra-Gleichungen beschrieben.

Numerische Lösungsmethoden

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Da es sich bei den Ratengleichungen um ein System von steifen Differentialgleichungen handelt, ist man gezwungen ein Verfahren mit einem möglichst großen Stabilitätsgebiet zu wählen, damit die Integrationsschritte nicht allzu klein werden. Am günstigsten sind A-stabile Verfahren.

Für die Ratengleichungen bedeutet 'steif', dass sich die Zeitkonstanten der verschiedenen Spezies sehr stark unterscheiden: Im Verhältnis zu anderen ändern sich einige Konzentrationen nur sehr langsam. Zwei Beispiele absolut steif-stabiler Integrationsverfahren sind die Implizite Trapez-Methode und die Implizite Euler-Methode, ebenso sind einige BDF-Verfahren (backward differentiation formula) geeignet.

Bausteinerhaltung

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Das Prinzip der Bausteinerhaltung liefert eine Möglichkeit, die Güte der numerischen Lösungen zu überprüfen, denn es gilt zu jedem Zeitpunkt:

 

wobei

     Minimale Anzahl der Bausteine,
    Anzahl an den Reaktionen beteiligten Spezies.

Herleitung

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Eine Spezies i, hier geschrieben als   setzt sich dabei aus den Bausteinen   folgendermaßen zusammen:

   .

in die Ratengleichung (Gl.1) eingesetzt und über alle Spezies summiert, liefert wegen   die oben genannte Bausteinerhaltung.

Beispiel für die Matrix βik

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Siehe auch

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Literatur

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  • W. Frie: Berechnung der Gaszusammensetzungen und der Materialfunktionen von  . In: Zeitschrift für Physik, 201, 269, 1967; Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg/ New York
  • C. Schwab: Beiträge zur kinetischen Modellierung von teilweise ionisierten Nichtgleichgewichtsplasmen. Dissertation an der Fakultät für Physik der Eberhard Karls Universität Tübingen, 1989
  • H. R. Schwarz: Numerische Mathematik. B. G. Teubner, Stuttgart 1986, ISBN 3-519-02960-X
  • G. Wedler: Lehrbuch der Physikalischen Chemie, Wiley-VCH, 2004, ISBN 3-527-31066-5
  • D. A. McQuarrie, J. D. Simon, J. Choi: Physical Chemistry: A Molecular Approach. University Science Books, 1997, ISBN 0-935702-99-7

Einzelnachweise

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  1. 2.3 Modellexperiment - Stechheberversuch, auf w-hoelzel.de
  2. 9.11: Oscillating Reactions. In: Chemistry Library. LibreTexts, 1. September 2020, abgerufen am 7. September 2020 (englisch).